Literarisches Verstehen durch "genaues Lesen": Teil IV

Fachartikel

In vier Schritten soll in dem vorliegenden Fachartikel ein literaturtheoretisch fundiertes Drei-Phasen-Modell zur Planung von Literaturunterricht skizziert werden, das sowohl für den Deutschunterricht als auch für den Literaturunterricht in den modernen Fremdsprachen Geltungskraft beansprucht.

Verschiedene Faktoren haben dazu geführt, dass es in der Literaturdidaktik keinen Konsens mehr darüber gibt, welche Ziele der Literaturunterricht verfolgt und auf welchen Wegen er diese verfolgen soll: Unklar und umstritten ist, was Literatur ist (oder sein könnte) und wofür sie im Unterricht gut und wichtig wäre. Für den desorientierenden Zustand der Disziplin, die sich "in einem Prozess permanenter Transformation" (Mitterer 2016, 19) befindet, scheint uns das von Baum festgestellte "erhebliche Theoriedefizit der Literaturdidaktik" (Baum 2010, 120; siehe auch Mitterer 2016, 21–23) verantwortlich zu sein.

Das hier vorgestellte Modell eines Literaturunterrichts erläutert die theoretischen Überlegungen, die einer Reihe von bei Lehrer-Online publizierten Materialien zugrunde liegen:

Teil IV: Ein literaturtheoretisch fundiertes Drei-Phasen-Modell zur Planung von Literaturunterricht

Das Drei-Phasen-Modell

Die hier skizzierte literarische Praxis eines verstehenden genauen Lesens ist der Orientierungsrahmen für die Planung von Unterricht über literarische Texte. Sie ist keine mechanisch abzuarbeitende Methodik, sondern der Versuch, eine didaktische Routine darzustellen und zu verfestigen, die uns als möglicher Weg erscheint, im schulischen Feld (sei es in der Ausbildung oder im Regelunterricht, die sich beide durch Ressourcenmangel gerade auch in der Vorbereitungszeit für Unterricht auszeichnen) der besonderen Qualität von Literatur gerecht zu werden. Sie ist geprägt von einer Haltung, die jener ähnelt, die Brüggemann, Federking und andere in Vergleichsstudien erprobt und empirisch ausgewertet haben: "Genaues Lesen als literarische Praxis" zielt ähnlich wie deren Modell "Ästhetische Kommunikation im Literaturunterricht" (ÄSKIL) darauf, eine ästhetische Erfahrung anzuregen.

Ein solches Vorgehen ist nach Brüggemann und Federking in vielen Punkten dem durch Aufgaben lenkenden instruktiven Literaturunterricht überlegen: Es erzeugt größere Effekte in Bezug auf für den Literaturunterricht wichtige Items wie "Ich kann mich gut in einen literarischen Text einfühlen" (d = 0,86), "Das Thema ist für mich persönlich von Bedeutung" (d = 0,61) und "Mir gefällt der literarische Text" (d = 0,47) sowie "Der Text lässt sich auf verschiedene Weise interpretieren" (d = 0,35) (Brüggemann, Federking und andere 2015, 235f.).

Gemeinsam Fragen suchen und Antworten finden, um einen Text zu verstehen

Das Ziel des Lesens im Literaturunterricht soll das Verstehen einer möglichen Textintention sein. Lehrkräfte und Lernende verstehen sich nach diesem Modell als Lesende, die gemeinsam Fragen an den Text stellen und diese kontrovers aber fundiert begründet beantworten. Es gilt, "Anlässe zur Erprobung unterschiedlicher Verstehensmodi" und "divergenter Interpretationshypothesen" zu schaffen, die "eine sorgfältige Klärung textueller Bezüge nötig machen" (Brüggemann, Frederking und andere 2015, 224).

Der Ausgangspunkt der Arbeit am literarischen Text ist die "Krise des Verstehens" und das "Staunen über das bislang Unbegriffene" (Gruschka 2015, 11). Die Schülerinnen und Schüler erfahren in einem solchen Unterrichtssetting durch die Lehrkraft eine entwicklungsorientierte Anerkennung als zur Mitsprache berechtigte Laien: "Das, was als 'Sache' im Unterricht zur Geltung kommt, steht nicht schon im Voraus fest, sondern entsteht im Zusammenspiel von Schüler- und Lehrerbeiträgen" (Hericks 2007, 12). So kommt Schülerinnen und Schülern eine veränderte Rolle zu. Sie erfahren eine "Anerkennung als Laien, die als solche für fachlich partizipations- und entwicklungsfähig angesehen werden" (ebenda). Mit dem Begriff "entwicklungsorientierte Anerkennung" meint Hericks eine Haltung der Lehrkraft, die davon ausgeht, dass Schülerinnen und Schüler "gerade aus der Position und Perspektive des Laien heraus wesentliche Beiträge in die fachbezogene Unterrichtskommunikation einbringen, die Bedeutung der Sache mitkonstituieren und in diesem Sinne am Fach partizipieren" (ebenda, 11, 12).

Beim mehrmaligen Lesen eines literarischen Textes werden schrittweise verschiedene dem Text angemessene Erschließungsmethoden genutzt, die ermöglichen, Antworten auf die Fragen zu finden, die der Text bei den Leserinnen und Lesern aufwirft. Oder anders ausgedrückt: "Um die scheinbare Selbstverständlichkeit individueller Verständnisvoraussetzungen infrage zu stellen (...) ist es unerlässlich, die Verständnisprobleme der Teilnehmenden explizit zu thematisieren und sie damit zum Ausgangspunkt vertiefender Interpretationsbemühungen zu machen" (Brüggemann, Frederking und andere 2015, 224).

Das Besondere am literarischen Lesen bewusst machen

Dabei wird auch eine Bewusstmachung der Spezifik von Literatur und von literarischem Lesen angestrebt (Gailberger 2013, 29). Erkundet wird durch das Lesen von Lesarten, von Textrezeptionen, wie der "Prozeß (...) der Bedeutungsbildung" (Fingerhut 1994, 46) im Unterricht im Vergleich zum Prozess in "fachwissenschaftlichen Studien" abgelaufen ist. Überprüft wird so stets auch kritisch, ob die im Unterricht getroffenen didaktischen Entscheidungen sich nicht zwischen Text und Lesende gestellt haben und dem Text in der Rezeption so etwas "andichten" (Löwenthal 1990), was diesem bei genauer Lektüre nicht zu entnehmen ist.

Das genaue, auf Verstehen zielende Lesen muss dem didaktischen Setzen von Leitthemen vorausgehen

Didaktische Entscheidungen müssen den jeweiligen Fragen, die sich aus dem Text ergeben haben, angemessen sein. Der Text steht - zumindest phasenweise - als Autorität im Unterricht über den didaktischen Entscheidungen. Zu beginnen ist eine Auseinandersetzung mit einem literarischen Text mit einem unvoreingenommenen Lesen und dem Sammeln und Kategorisieren von Fragen für die Weiterarbeit. Aus den fachmethodischen Zugängen, die bei der Weiterarbeit verfolgt werden, ist auszuwählen, was für das Verstehen hilfreich ist.

In den Fremdsprachen gelten im Umgang mit literarischen Texten grundsätzlich die gleichen Anforderungen, die ergänzt werden müssen um Überlegungen zur Sicherung der sprachlichen Progression im Bereich der Erweiterung der sprachlichen Mittel und kommunikativen Kompetenzen. Diese dürfen sich jedoch nicht über den Anspruch hinweg verselbständigen, die Texte angemessen zu verstehen. Durch das Verstehen erst kann eine angemessene Positionierung und Kommunikation erfolgen. Das in der Regel in Aufgaben des Anforderungsbereichs III geforderte "Beurteilen" kann nicht an die Stelle eines Verstehens treten, kann nicht vor dem erfolgten Verstehen geschehen.

Die drei Phasen eines genauen Lesens

Die hier beschriebene und empfohlene "didaktische Routine" eines kontextbezogenen genau lesenden Literaturunterrichts folgt einem Drei-Phasen-Modell. In der ersten Phase, "A - Ein unbedarftes selbständiges Lesen", lesen die Schülerinnen und Schüler den Text zunächst ohne Vorgaben durch die Lehrkraft.

Hierauf folgt die zweite Phase, "B - Ein literarisches Gespräch", um Eindrücke über das Befremdliche im Text zunächst in einem Gruppengespräch zu artikulieren, die dann im Anschluss gesammelt und in Analysekategorien, in einer Leitfrage oder in unterschiedlichen ersten Deutungshypothesen gebündelt werden. Unter der Fragestellung "Was fällt auf?" geht es hier noch nicht um Analyse; oft entwickelt es sich aber ansatzweise so. Die Reaktionen der Leserinnen werden festgehalten, um Fragen, Analysekategorien oder erste Deutungshypothesen entstehen zu lassen.

Die dritte Phase, "C - Die Beantwortung der Fragen bzw. die Überprüfung der Deutungshypothesen", erfolgt nun im Anschluss, indem unterschiedliche Zugänge zum Text eröffnet werden: 1. textimmanent (an Auszügen), um den Text durch genaues Lesen ("lire le texte 'littéralement'" Ansel 2012b, 13) hinsichtlich der in ihm gegebenen Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu analysieren, 2. kontextbezogen (an Sekundärtexten), um den Text in Bezug auf die Fragen in seinem historischen Kontext zu analysieren, 3. rezeptionsbezogen (an Auszügen aus Studien über den Text), um in Bezug auf die Fragen ausgewählte kontroverse Rezeptionen mit dem im Unterricht ablaufenden Verstehensprozess zu vergleichen und um die unterschiedlichen Deutungslogiken, die beim Lesen und in der Literaturwissenschaft wirken, erkennen zu können. Hier kann es ausreichend sein, ein bis zwei weitere Rezeptionen hinzuzuziehen, die entweder Einblick in Kontroversen über den Text, in die Rezeptionsgeschichte oder in unterschiedliche literaturwissenschaftliche Richtungen (historisch-positivistische, feministische, dekonstruktivistische, strukturalistische, literatursoziologische Literaturwissenschaft et cetera) geben. So kann versucht werden, die Fragen aus dem literarischen Gespräch (im Rahmen der festgelegten Leitfragen, der Analysekategorien oder in Überprüfung unterschiedlicher Deutungshypothesen) zu beantworten.

Die Phasierung ist flexibel und angemessen zu gestalten

Hierbei werden bei der textimmanenten Arbeit "Analyseverfahren" eingesetzt, die nicht schematisch abzuarbeiten sind, sondern jeweils unterschiedlich - je nach Fragestellung und Analysekategorie - in den Mittelpunkt rücken. Auch eine feste Reihenfolge ist nicht sinnvoll. So kann mit der Bestimmung von bedeutungsstiftenden Ordnungen ebenso begonnen werden wie mit der Charakterisierung oder mit einem Vergleich von Rezeptionen.

Sinnvoll kann es auch sein, beim genauen Lesen eines "klassischen" und von der Rezeption bereits verschütteten (Ansel 2012a) Textes wie Albert Camus' "L'Etranger" von Beginn an die den Schülerinnen und Schülern ohnehin bekannte Lesart des Romans als "Roman des Absurden" zu problematisieren (also mit der Phase C.3 beginnend), um diese danach durch genaues Lesen zu überprüfen. Bei der Überprüfung werden dann die im literarischen Gespräch aufgeworfenen Fragen gesichert und geklärt. Die genau lesenden Schülerinnen und Schüler erkennen so durch den Einsatz von Charakterisierungen und Kontextualisierung der Charakterzüge der Protagonisten als "Sozialcharakter" im Verlauf des Verstehensprozesses, dass die Deutung des Romans als Roman des Absurden entscheidende Inhalte des Textes überliest, vor allem die in ihm eingegangene Realität des Kolonialismus und Camus' Versuch, die europäischen Bewohner der Kolonie in ihrer unideologischen Lebensweise positiv darzustellen (Albes 1990, Ansel 2012, Schröder 2013Schröder 2016). Und sie verstehen, dass der Roman je nach sozialer Position seiner Leserinnen und Leser unterschiedlich gedeutet wird. Möglich ist auch, vor oder statt einer Kontextualisierung (Phase C.2) nur eine rezeptionsbezogene (Phase C.3) Deutung des Textes zu erarbeiten.

Ebenso sinnvoll kann es aber auch sein, beim genauen Lesen eines weniger von seiner Rezeption vorbelasteten Textes wie Lessings "Emilia Galotti" die Reihenfolge der hier vorgeschlagenen Phasierung exakt einzuhalten, um erst am Ende den Blick auf Rezeptionen und Deutungslogiken zu werfen. Auf ein literarisches Gespräch folgt dann durch ein "genaues Lesen" die textimmante Analyse einer zentralen Fragestellung sowie eine kontext- und rezeptionsbezogene Deutung des Textes.

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