Albert Camus' "L'Etranger": Einen Schulklassiker genau lesen, Teil V

Fachartikel

Auch bei der Analyse des zweiten Teils des Romans soll es darum gehen, genau zu lesen und die Fragen zu beantworten, die der Text aufwirft, um zunächst seine innere Logik zu verstehen. Dem Leser sei auch hier anempfohlen, kritisch zu kontrollieren, dass nichts umgedeutet und nichts in den Text hineingelesen wird, was nicht im Text erkennbar ist.

Albert Camus' Roman "L'Etranger", zwischen 1939 und 1940 verfasst und 1942 veröffentlicht, kann wohl als "Schulklassiker Nummer eins" (Steinbrügge 2008, 77) gelten. Die Arbeit mit dem Roman im Unterricht steht jedoch trotz oder vielleicht gerade wegen der großen Zahl literaturwissenschaftlicher Arbeiten, die sich an einer Deutung versucht haben, und wegen einer langen Tradition didaktisierter Unterrichtsvorschläge noch immer vor großen Herausforderungen. Eine besondere Schwierigkeit bei der Arbeit mit dem Text ergibt sich aus der Forschungslage. Rezeptionsgeschichtlich überlagern sich mehrere noch immer wirksame Phasen letztlich widersprüchlicher Romandeutungen (vgl. Ansel 2012, 123ff.), was eine dem Text angemessene, zum Verstehen des Textes führende didaktische Planung erschwert.

Satirische Verzeichnungen

Im Bericht über das Verhör durch den Untersuchungsrichter erzählt der Erzähler Meursault einiges nicht, er verschweigt im rückblickenden Bericht den genauen Tathergang und hält somit an seiner Darstellung des Mordes fest, die wie bereits anhand der Mordschilderung im ersten Romanteil erarbeitet, vor allem darin besteht, die entscheidenden Informationen über das Geschehen und seine aktive Mitwirkung und Schuld wegzulassen:

"Je lui ai retracé [...] la plage, le bain, la querelle, encore la plage, la petite source, le soleil et les cinq coups de revolver" (77f.).

Auffällig ist weiterhin das Wie der Erzählung, der Emotionen weckende Tonwandel des Textes. Zuvor dominierte eine lakonische Erzählweise, distanziert und teilnahmslos reihte der Erzähler in wertungsfreier Sachlichkeit Ereignis an Ereignis. Nun aber erhält der Text einen geradezu satirischen Charakter. Der Untersuchungsrichter wird in äußerster Verzerrung dargestellt, er erscheint als extrem ideologisch agierend: "Il agissait son crucifixe"(79), "m'a exhorté une dernière fois, dressé de toute sa hauteur, en me demandant si je croyais en Dieu. J'ai répondu que non. Il s'est assis avec indignation. Il m'a dit que c'était impossible, que tous les hommes croyaient en Dieu, même ceux qui se détournaient de son visage. C'était là sa conviction et, s'il devait jamais en douter, sa vie n'aurait plus de sens. 'Voulez-vous [...] que ma vie n'ait pas de sens?' [...] il avançait déjà le Christ sous mes yeux et s'écriait d'une façon déraisonnable: 'Moi, je suis chrétien. Je demande pardon de tes fautes à celui-là. Comment peux-tu ne pas croire qu'il a souffert pour toi? [...] Tu vois, tu vois, [...] N'est-ce pas que tu crois et que tu vas te confier à lui?' Evidemment, j'ai dit non une fois de plus" (80).

Zwei Weltsichten stoßen aufeinander

An dieser Stelle stoßen zwei Weltsichten aufeinander: Eine, die die Welt sinnhaft gestaltet sieht sowie die Religion und Gott, Fakten, rational erklärbare Kausalitäten, Gerechtigkeit, Schuld und Sühne als Strukturen anerkennt und benötigt. Eine andere, für die Gott nicht mehr existiert und die den Zusammenbruch der alten vormodernen Welt für andere in erschreckender Weise offenzulegen scheint. Der Erzähler karikiert die erste als "déraisonnable". Der ganze Prozess karikiert in seiner Darstellung das, was eine sachliche, auf Wahrheitsfindung zielende, rationale Rekonstruktion der Tat, eine rationale Argumentation und Verhandlung ausmachen würde. Nicht nur Meursault empfindet ihn als lächerlich, "J'ai pensé que c'était ridicule" (98), auch der Leser gewinnt den Eindruck, dass der geschilderte Prozess lächerlich ist und dieser Eindruck wird durch die Erzählweise erzeugt.

Die "ideologische" Weltsicht wird der Lächerlichkeit preisgegeben

Lächerlich erscheinen mehr oder weniger:

  • die am Mord völlig uninteressierte Polizei ("au commissériat, mon affaire semblait n'intéresser personne"; 73),
  • Meursaults kleiner, dicker, nervöser, leicht zu erregender Anwalt ("très agité", 75; "il m'a regardé d'une façon bizarre", 76; "il est parti avec un air fâché", 76), der seine Amtspflichten sträflich vernachlässigt ("qui 'par suite d'un contretemps', n'avait pas pu venir", 77), der schließlich die Schultern zuckend resigniert und niedergeschmettert aufgibt ("a haussé les épaules […] et paraissait ébranlé", 112; vgl. auch 119), und der ihn am Ende ganz und gar entmündigt und an seiner Stelle sprechend (vgl. 120) Lüge an Halbwahrheit und Allgemeinplatz reiht ("travailleur", "compatissant", 121) und dabei kläglich scheitert,
  • der irrational-fanatische Untersuchungsrichter, der den wehrlosen Meursault mit einem Kruzifix bedrängt und versucht, den Erzähler zu missionieren, anstatt ihn sachlich zu befragen ("il s'est écrié: 'Est-ce que vous le connaissez, celui-là?'", 79),
  • der Journalist, der Meursaults Geschichte aus niederen Beweggründen überzogen darstellt, "nous avons monté un peu votre affaire" (97), und damit jede journalistische Ethik verletzt,
  • Céleste, der unfähig ist, seinen Freund mit sinnvollen Aussagen zu entlasten und nur hilflos stets das Gleiche wiederholt: "c'est un malheur"(107),
  • ebenso Marie und all die anderen Bekannten, vor allen anderen Raymond, der nicht das "malheur", sondern den "hasard" als Erklärungsversuch für den Mord bemüht und damit ebenso kläglich scheitert wie alle anderen vor ihm auch.
  • Mit ihnen wird auch der Staatsanwalt satirisch verzerrt der Lächerlichkeit preisgegeben, als er nicht die wahren Hintergründe versucht zu thematisieren, sondern Meursault fälschlicherweise als Komplize eines Zuhälters bezeichnet (111) und in maßloser Übertreibung moralisierend anklagt:
    "Le même homme qui au lendemain de la mort de sa mère se livrait à la débauche la plus honteuse a tué pour des raisons futiles et pour liquider une affaire de moeurs inqualifiable […]. J'accuse cet homme d'avoir enterré une mère avec un coeur de criminel" (111). Er erscheint als schreiender und unbeherrschter Rechtsverdreher, "[qui] s'est écrié [...] avec une lueur ironique dans les yeux […] s'est élevé avec violence" (104),
  • letztlich auch der Priester, gegen dessen religiösen Eifer Meursault sich am Ende auflehnt.

Meursaults Erzählstrategie ist satirisch

Angesichts dieser Erzählstrategie, die darauf abzielt, alle jene lächerlich zu machen, die Meursault im Prozess gegenübertretenden, muss das auf der Sachebene überzeugende Plädoyer des Anklägers, nach dem Meursault den Mord gezielt begangen hat, um seinen Freund zu rächen (115), unglaubwürdig werden. Meursault erzählt nur wenig davon, dass auch über das Opfer, den Araber, und über die Vorgeschichte, die Auseinandersetzung zwischen den Francais de souche européenne, die dem Mord vorangegangen ist, geredet worden sein muss. Meursaults Wiedergabe des Plädoyers des Staatsanwalts, "J'avais abattu l'Arabe comme je le projetais" (115), ist einer der wenigen von Meursault erzählten Hinweise auf den Hintergrund des Mordes. Im Prozessverlauf muss mehr als das Erzählte erörtert worden sein. Sonst wäre die Stelle im Plädoyer für die Geschworenen nicht verständlich.

"Wie wurde ich verurteilt?"

Meursault stellt in den Mittelpunkt seiner Erzählung aber nicht, warum er verurteilt wird, sondern wie er verurteilt wird. Und er unterstreicht vor allem, dass er verurteilt wird, weil er sich – wie alle anderen Protagonisten im 1.Teil auch – nicht konform der gesellschaftlichen Tradition verhalten habe. Ihm werde vorgeworfen, zentrale Normen, "familiäre Solidarität", "Trauerzeit", "Reue" und so weiter verletzt und diese erst gar nicht in Form eines (schlechten) Gewissens internalisiert zu haben, "je ne regrettais pas beaucoup mon acte" (116). Die Anklage gipfelt in der völlig überzogenen Behauptung: "Surtout lorsque le vide du coeur tel qu'on le découvre chez cet homme devient un gouffre où la société peut succomber" (117).

In der verzerrten Überzeichnung wird die Anschuldigung unglaubwürdig, zumal der Staatsanwalt in unzulässiger Weise den am nächsten Tag zu verhandelnden Vatermord mit dem Fall Meursault vermengt (118). Auch der Auftritt des Priesters, der sich ohne Erlaubnis Zutritt in Meursaults Zelle verschafft und dort einen Missionierungsversuch unternimmt und der so kläglich scheitert wie der Anwalt (139), ist Teil dieser satirischen Verzerrung durch einen Erzähler, der alles, so wird sich am Ende des Romans zeigen, im Rückblick erzählt, um eine ganz bestimmte Wirkung zu erzielen.

Was stellt der zum Tode verurteilte und auf seine Hinrichtung wartende Ich-Erzähler diesen satirisch verzerrten und dadurch unglaubwürdig werdenden Aussagen und Figuren entgegen?

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Dr. Achim Schröder

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