Georg Büchners "Lenz" genau lesen, Teil IV

Fachartikel

Teil IV des Artikels zu Georg Büchners Novelle "Lenz" befasst sich mit der textimmanenten Analyse von Lenz' Reaktion auf das Lied.

Die Materialien der Unterrichtseinheit Georg Büchners "Lenz" genau lesen zeigen, wie im Unterricht über "Lenz" zunächst von den Irritationen, Fragen und Deutungshypothesen der Schülerinnen und Schüler ausgegangen werden kann, bevor der Interpretationsprozess durch didaktische Entscheidungen beeinflusst wird.

Im Zentrum der Unterrichtseinheit steht die in literarischen Gesprächen zu diesem Text häufig aufgeworfene Frage: "Wieso scheitert Lenz' Versuch, bei Oberlin Ruhe zu finden?". Diese soll im vorliegenden Fachartikel beantwortet werden.

Textimmanente Analyse III

Abschnitt 3: Lenz' Reaktion auf das Lied

Die durch das Lied ausgelöste Erinnerung an die pietistische Tradition (der Vater des historischen Lenz war pietistischer Prediger) "erschüttert" Lenz. Nun empfindet er "unnennbaren Schmerz". Er hat den unangenehmen Eindruck, als würde ein gottähnliches Wesen an seinen Lippen saugen.

Lenz geht "auf sein einsames Zimmer", wo er zunächst eine ebenfalls rätselhaft "Wollust" empfindet: Die Predigt und die Antwort der Gemeinde auf die Predigt führt ihn in eine "erotisch bestimmte Ekstase" (Anz 1981, 166), zu einem "negativen Gefühl des Schmerzes bis hin zur physischen Selbstverletzung und Selbstvernichtung" als "Sichselbstfühlen" (ebenda). Die Lust, die er empfindet, bringt ihn zum Weinen; er hat Krämpfe, er hat das Gefühl, sich aufzulösen und darüber bemitleidet er sich, um schließlich einzuschlafen. Nun, im Schlaf erst, findet er Ruhe. Eine Ruhe, die er wach nicht mehr finden kann.

Das Gespräch mit Oberlin nach der Predigt führt keineswegs zu einer auch am Tag wirksamen Beruhigung, sondern zu einem Wiederaufbrechen der Krise, zu erneuter Unruhe. Lenz begleitet Oberlin von nun an nicht mehr bei seinen Ausritten. In dem auf die Predigt folgenden für Lenz fatalen Gespräch mit Oberlin, das befremdliche Züge annimmt, verliert sich Lenz' für kurze Zeit wiedergewonnener Ruhezustand.

Abschnitt 4: Oberlins befremdliche Reaktion auf Lenz

Auffällig, befremdlich und fatal ist Oberlins Reaktion auf Lenz, der ihm schildert, dass ihm seine Mutter aus einer Kirchhofmauer zusammensinkend und von Rosen überwachsend hervortretend erschienen sei. Was er daraus ableitet, ist, dass seine Mutter tot sein müsse und dass ihn der Tod seiner Mutter beruhige.

Oberlin reagiert anders, als wir dies als rational denkende Leserinnen und Leser erwarten würden. Er fragt nicht nach, wieso Lenz froh und nicht traurig über den Tod der Mutter sei und ob er sich denn sicher sein könne, dass sie tot ist. In der von Büchner genutzten Hauptquelle tut Oberlin es noch: "Ich antwortete wie ich konnte; sagte ihm unter anderm, vielleicht lebten diese Personen alle noch" (zitiert nach Will 2000, 310). In Büchners "Lenz" problematisiert Oberlin auch nicht, dass dieser Geister zu sehen glaubt. Er bestärkt Lenz vielmehr in seinem irrationalen Glauben, der Tod anderer Menschen könne durch Geistererscheinungen oder Träume vorhergesagt oder gleichzeitig empfunden werden.

Oberlin ist so wenig empathisch und so wenig rational, dass Will hier von Büchners "vernichtender Kritik" (2000, 241) an Oberlin spricht. Festzuhalten bleibt, dass Büchner nun Oberlins irrationale Seite in den Vordergrund rückt, sie nicht einfach abbildet, sondern deutlicher als in der Quelle herausarbeitet.

Oberlins textimmanent nachzuweisende fatale Wirkung auf Lenz

Bei genauer Lektüre zeigt sich Oberlins irrationaler Geisterglauben deutlich erkennbar als Grund für die Verschlechterung von Lenz' Zustand. Der Text zeigt, "daß für Lenz von Oberlins Mystizismus eine psychische Gefährdung ausgeht" (Will 2000, 311), was durch den Vergleich mit Stilling, einer "Referenzfigur in Sachen Mystizismus, nochmals unterstrichen" (ebenda) wird.

Büchner konfrontiert Lenz mit Oberlins "spezifischer Religiosität" (ebenda), denn Oberlin glaubt nicht nur wie Lenz an übersinnliche Phänomene, an Stimmen und Träume, die die Realität beeinflussen. Oberlin lenkt Lenz in den Sog seines Irrationalismus, und gemeinsam steigern sie sich in eine naturphilosophische Reflexion, an deren Ende Lenz glaubt, eine sichere Quelle für Ruhe entdeckt zu haben:

"[...] er meine, es müsse ein unendliches Wonnegefühl sein, so von dem eigentümlichen Leben jeder Form berührt zu werden; für Gesteine, Metalle, Wasser und Pflanzen eine Seele zu haben; so traumartig jedes Wesen in der Natur in sich aufzunehmen, wie die Blumen mit dem Zu- und Abnehmen des Mondes die Luft. Er sprach sich selbst weiter aus, wie [...] in den niedrigen Formen Alles zurückgedrängter, beschränkter, dafür aber auch die Ruhe in sich größer sei".

Oberlins Mystizismus überträgt sich auf Lenz

Der Text erweckt den Eindruck, als übertrage sich Oberlins Irrationalismus hier in Form einer pantheistischen Religiosität auf Lenz: Als Oberlin vom Bergwasser spricht, nimmt Lenz das Wasserthema auf und beginnt seinerseits vom Wassergeist zu sprechen. Lenz glaubt an diesem Punkt seiner Erzählung der Harmonie und Ruhe ganz nah zu sein. Er vermutet sie in der Natur zu finden, am größten sei sie in den einfachen Organismen.

Erstaunlicherweise aber bricht Oberlin das Gespräch, das sie zu Beginn noch einvernehmlich geführt hatten, nun gerade an dieser Stelle ohne Begründung abrupt ab. Der Text legt nahe, anzunehmen, der Grund hierfür sei, dass Oberlin die Lust am Gespräch verliert, weil ihm Lenz' Gedanken als zu schwierig, nicht mehr nachvollziehbar erscheinen - "es führte ihn zu weit von seiner einfachen Art ab" - und weil er es nicht mehr für wert erachtet, weiter mit Lenz zu sprechen.

Oberlin nimmt das Gespräch mit Lenz aber später erneut auf, um es auf eine nochmals von Irrationalismus geprägtes Thema zu lenken: Er beschließt, Lenz mit Farbentäfelchen erklären zu wollen, dass die Zwölffarbentafel für die Menschen eine besondere Bedeutung habe. Diese Behauptung versucht er durch einen Hinweis auf die Bibel zu stützen. In der Bibel könne man ja sehen, dass es auch 12 Apostel gebe und dass jeder dieser Apostel durch eine Farbe repräsentiert würde.

Lenz "spinnt" Oberlins Ideen weiter

Lenz findet keine Distanz zu Oberlins wirren Ideen und reagiert auch hier unmittelbar, Oberlins Impulse weiterspinnend und sofort in ängstliche Träume geratend. Oberlin, so zeigt der Text hier deutlich, wirkt nicht als Kontrapunkt von Lenz, nicht als "Verkörperung all dessen, was Lenz existentiell ersehnt" (Hinderer 1981a, 174). Lenz bewegt sich nicht, wie Hinderer fälschlicherweise annimmt, von Oberlin weg, sondern führt einen von ihm angestoßenen Weg weiter.

Es liegt eben doch an Oberlins Christentum, allerdings nicht - wie sich bei genauer und kontextbezogener Lektüre zeigen wird - an dessen "flachem Christentum" (ebenda, 175), sondern an seinem pietistisch-mystischen Christentum in Verbindung mit Oberlins "mystisch-phantastischen Wunderglauben" (Will 2000, 221).

Exkurs 6: Oberlins Wirkung auf Lenz im Kontext gelesen

Was kann über eine textimmanente Analyse hinaus erkannt werden, wenn wir diesen Aspekt des Textes, Oberlins Wirkung auf Lenz, im Kontext lesen?

Bei der Suche nach dem Kontext ist es nicht damit getan, wie Hinderer in positivistischer Forschungstradition auf die Quellen zu verweisen, auf Texte, in denen zum Beispiel die Farbenlehre thematisiert wurde (1977, 165). Lenz' Predigt deutet Hinderer als erfolgreiche Kommunikation mit der Gemeinde; es gelinge Lenz, "in der Predigt über die eigenen Leideserfahrung mit der Gemeinde zu kommunizieren" (1977, 55). Es gelinge ihm, "dieses dumpfe Leiden gen Himmel leiten" zu können. Die Predigt sei bedeutsam als eine "Art mystische Vorstellung, Lenz wolle einen Zugang zu Gott über den Schmerz"(56).

Hinderer sichert seine These nicht durch textimmanente Analyse ab, sondern durch den Verweis auf die von Caroline Schulz überlieferten Worte Büchners an seinem Todesbett. Das Lied als paradoxe Antwort auf seine Predigt wird in der Deutung nicht erwähnt, es wird überlesen. Das Gespräch mit Oberlin erscheint bei Hinderer dann folgerichtig in einem völlig anderen Licht; er bezeichnet es als "ernsthaftes Gespräch". Lenz und Oberlin seien "als Gegensätze gesehen: hier der ruhige, tätige, menschenfreundliche, einfache, ausgeglichene Bürger, dort der unruhige, müßige, in sich selbst versunken außerordentlich komplizierte manisch-depressive Dichter". Folgerichtig ist auch für Hinderer erst das Treffen mit Kaufmann Wendepunkt der Novelle (55).

Hier wird deutlich, wohin es führt, zentrale Textstellen nicht genau zu lesen, ihre Befremdlichkeit nicht zur Kenntnis zu nehmen und ihre Funktion für das Gesamtkonzept des Textes außer Acht zu lassen. Anstatt die Bedeutung des Textes zunächst aus dem Text selbst zu schöpfen um sie dann zielgerichtet auf die Klärung des Befremdlichen bezogen kontextbezogen zu klären, bezieht sich die Interpretation bei Hinderer in typisch geistesgeschichtlicher Manier auf die Ideenwelt Kants, Goethes, Feuerbachs und auf die des historischen Lenz.

Die Suche nach einem relevanten Kontext muss jedoch von Befremdlichkeiten des Textes ausgehen, und hier findet sich im Text durch die Nennung von Stilling ein wichtiger Hinweis, der eine Frage aufwirft: Warum vergleicht der Erzähler Lenz mit Stilling?

Bibellektüre als Kontext: Lenz liest die Bibel wie (Jung-)Stilling

Es ist der Erzähler, nicht Oberlin und nicht Lenz, der auf Stilling verweist, der Lenz mit Stilling vergleicht. Ein Lesen des Textes in seinem Kontext zeigt, dass hier auf den Pietisten Jung-Stilling verwiesen und damit das Milieu präzise kennzeichnet wird, in dem Lenz sich bewegt.

Der historische Oberlin hatte im August 1808 die persönliche Bekanntschaft mit dem pietistischen Prediger und Schriftsteller Johann Heinrich Jung-Stilling gemacht. Dieser war bekannt als exzentrisch frommer Pietist, der seine rigorose Bibelauslegung mit einer Vielzahl an Veröffentlichungen (Rede über den Werth der Leiden, 1789; Theorie der Geisterkunde, 1808; Szenen aus dem Geisterreich, 1795-1801; Siegsgeschichte der christlichen Religion in einer gemeinnüzigen Erklärung der Offenbarung Johannis, 1799) vertrat und dabei einen Umgang mit Religion pflegte, der vorchristlichen Geisterglauben mit strengster Bibelauslegung und Leidenshingabe vermischte.

Die in Oberlins Gemeinde gepflegte Religiosität erweist sich durch den Hinweis auf Stilling als von einem besonderen Umgang mit der christlichen Offenbarungslehre geprägt. Lenz kommt in dem Milieu, in dem er sich bewegt, auf die Idee, die Bibel wie Stilling zu lesen. Oberlins Kontakte mit dem pietistischen Mystiker und Geisterseher Jung-Stilling waren Büchners Zeitgenossen bekannt. Sie fanden allerdings deutlich später statt, und Büchner versieht seine Erzählung hier mit einer "krassen historischen Aporie" (Will 2000, 237), um das Milieu, in dem Lenz sich bewegt, näher zu beschreiben.

Stilling hat in seinen Schriften selbst darauf hingewiesen, dass ihn seine Bibellektüre in einen schwermütigen instabilen Zustand gebracht hatte (ebenda). Deutlich erkennbar wird im Text, dass Oberlins Mystik und Geisterseherei jener ähnelt, die man bei Jung-Stilling finden kann. Durch den Vergleich "Lenz liest das Gleiche wie Stilling" wird unterstrichen, dass Lenz im Kontakt mit Oberlin immer weiter in das krankmachende Milieu eines pietistischen Mystizismus verstrickt wird.

"Lenz" im Kontext des zeitgenössischen Spotts über Jung-Stilling

Jung-Stilling wird in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts von maßgeblichen Intellektuellen verspottet. Ernst Moritz Arndt (1769-1860) verweist auf die zahlreichen satirischen Darstellungen des schwedischen König Gustav IV. Adolf, die diesen Jung-Stilling lesend zeigen (Arndt 1839, 409). Carl Heinrich Georg Venturini (1768-1849) nennt Jung-Stillings Veröffentlichungen "thörichte", "blind" und "wundersüchtig" (!) machende Schriften (Venturini 1821). Friedrich Nork (Nork 1835) nimmt sich vor, "aus dem Jung-Stillingschen Sprachrohr den Feuerlärm zu blasen", der "grosse Zerstörungen des Verstandes" veranlasse.

Will weist in seinem Editionsband der Novelle (Will 2000, 43 u.a.) nach, dass Büchner in Stoebers 1831 erschienenen Darstellung "Vie d'Oberlin" sowohl über das große Elend in Oberlins Gemeinde als auch über Oberlins Hang zum Glauben an das Übersinnliche, an die Kommunikation mit Toten, an die Voraussage von Todesfällen und über den Inhalt von Oberlins Predigten gut informiert war. Büchners sozialrevolutionäre Weltsicht, so lässt sich zeigen, unterscheidet sich radikal von der Oberlins. Das Objekt seiner Leidenschaft zielt darauf, das Leben der notleidenden Bauern durch eine sozialrevolutionäre Lösung im hier und jetzt zu verbessern.

Zurück zur textimmanenten Analyse: Lenz' Bibel-Lektüre nach dem Vorbild Stillings zeigt eine fatale Wirkung

Wichtig ist festzuhalten, dass Lenz nun wie Stilling, möglicherweise angeregt durch Oberlin, die Johannesoffenbarung liest (ein Lesen des Kontextes würde zeigen, dass dort im 21. Kapitel die zwölf unterschiedlichen Farben der 12 Tore Jerusalems beschrieben werden). Lenz liest wie Stilling die Apokalypse, ohne für die Wahl seiner Lektüre von Oberlin kritisiert zu werden.

Dies hat eine fatale Wirkung auf den bereits destabilisierten und in seinem Wirklichkeitsbezug gestörten Lenz. Seine Lektüre und die befremdliche Irrationalität Oberlins versetzen ihn in große Unruhe, "die mystisch-pietistischen Neigungen Oberlins (verstärke)n die 'traumartigen' Zustände von Lenz gefährlich" (Hinderer 1990, 101). Die Textintention von "Lenz" läuft "auf eine Problematisierung von mystisch-pietistischen Religionsauffassungen hinaus" (Will 2000, 310).

Der Erzähler distanziert sich von Oberlin

Dies wird auch daran deutlich, dass der Erzähler schon in der Wortwahl auf Distanz zu Oberlin geht, wenn er darauf hinweist, dass Oberlin zwölf Apostel "herausbrachte". Und mit dem Konjunktiv 2, "repräsentiert würde", stellt er eine große Distanz zum Inhalt des Erzählten her. Die Wirkung auf Lenz ist fatal.

Der Erzähler verhält sich Oberlin gegenüber wie viele Zeitgenossen Oberlins, der sich "schon früh gegen den Vorwurf, er sei 'un enthousiast et un visionnaire ridicule' verteidigen musste, und gegen die Kritik, daß sein visionärer Wunderglaube im Steintal eine wahre Flut von absurden phantastischen Geschichten hervorrief, die 'traurige Spuren in den Gemüthern' hinterließen" (Will 2000, 240). Es war Zeitgenossen bekannt, dass 'auch Oberlins eigener Sohn Charles-Conservé, der seines geistlichen Amtes enthoben wurde, weitgehend ein Opfer solcher Verirrungen war'" (Kurtz 1982, 117; zitiert nach Will 2000, 241).

Deutlich wird bei einer kontextbezogenen Betrachtung des Textes, wie sehr der von Büchner gestaltete Erzähler mit Oberlin, "gerade [als] eine Kulturfigur des elsässischen Protestantismus" (Will 2000, 186) abrechnet, der nicht nur als vorbildlicher Seelsorger, sondern auch als innovativer Pädagoge und Sozialreformer galt und maßgeblich die als das 'elsässche Sibirien' geltende Gegend des Steintals zivilisiert haben soll (vergleiche ebenda).

Dem Literaturwissenschaftler Pierre Barbéris (1999) gilt Oberlin als Vorbild für den sozialreformerischen Protagonisten, den docteur Benassis, in Balzacs "Médecin de Campagne" aus dem Jahr 1833. Vom gängigen, unkritischen bis devoten Oberlin-Bild bleibt in "Lenz" nicht viel übrig. Büchner formuliert eine letztlich "geradezu vernichtende Kritik" an Oberlin und seinem "gefährlichen Aberglauben" (241), mit fataler Wirkung auf Lenz. Büchner gestaltet den Text dabei fernab von einer Abbildung historischer Wirklichkeit, denn Oberlin hat den Krankheitsverlauf des historischen Lenz "in Wirklichkeit nur sehr unmaßgeblich beeinflusst" (Will 2000, 241).

Zwei Faktoren wirken auf Lenz: pietistische Frömmigkeit und irrationale Naturmystik

Als Ausgangspunkt dieser fatalen Verschlechterung von Lenz' Zustand erweisen sich beim genauen Lesen der Textpassage zwei Faktoren:

Erstens tritt Oberlin Lenz gegenüber plötzlich gänzlich anders auf als zuvor: Er ist nicht mehr der rational handelnde protestantische Sozialreformer, der Wege und Kanäle bauen lässt und die schulische Bildung fördert, um seine Gemeinde zu modernisieren, sondern er erweist sich als jemand, der wie Jung-Stilling irrationalen Ideen anhängt.

Zweitens entpuppt er sich als frommer Pietist, der zwar sozialreformerisch handelt, in dessen Gemeinde das Leiden aber paradoxerweise dennoch als Lebensziel und Weg zu Gott verklärt wird. Er vertritt einen mystischen Geister- und Farbsymbolglauben. Er ist zudem Lenz' Mitteilungsbedürfnis gegenüber völlig unemphatisch, als er diesem nicht weiter zuhören will und das Gespräch mit ihm "abbricht".

In diesem Milieu kann Lenz keine Ruhe finden 

Hatte Lenz Ruhe zuvor zunächst durch einen intensiven Kontakt mit der Natur und dann durch die Begleitung eines rational sozialreformerisch handelnden Menschen gesucht und bei Oberlin gefunden, so knüpft er angeregt durch den Kontakt mit Oberlin an "alte Hoffnungen" an. Diese Hoffnungen bestanden darin, durch Religion das Leiden der anderen und das eigene Leiden im Rahmen "biblisch-religiösen Sprachhandelns" gen Himmel zu lenken.

Dieser Versuch aber scheitert schon nach der Predigt, als ihm die Kirchengemeinde durch das Singen des Liedes mitteilt, dass es durch Religion nicht erlöst werden kann, weil Religion für sie eine klare und eindeutige Funktion hat: das materielle Leid als nicht überwindbar zu verklären und zum positiven Inhalt des Lebens zu machen.

"Leiden wird zu einem nicht übersteigbaren, letzten und 'positiven' Ziel" (Anz 1981, 164; zitiert nach Hinderer 1990, 77). Das Objekt von Lenz' Leidenschaft ist nicht das "bien au-de-là du tombeau", sondern zielt darauf, das Leben der notleidenden Bauern im hier und jetzt zu verbessern. Dass ihm dies nicht gelingt, liegt auch daran, dass er eine Beendigung des Leidens nicht außerhalb eines religiösen Idealismus denken kann.

"Textintention" als Fachbegriff

Die Frage "Warum findet Lenz bei Oberlin keine Ruhe?" kann durch die immanente Textanalyse der Predigtpassage, die sich bei der Beantwortung an nichts anderem als an der "Textstruktur" und damit an der "Textintention" orientiert, abschließend wie folgt beantwortet werden:

Lenz findet keine Ruhe, weil er sie in engem Kontakt mit dem (wie sich bei einer kontextbezogenen Deutung zeigen wird: pietistischen) Pfarrer Oberlin sucht, was ihm aber keine Ruhe, sondern eine Intensivierung von Schmerz und Leid bringt.

Eine weitere textimmanente Analyse von Lenz' Versuch, im Rahmen einer christlich-religiösen Deutungslogik zu agieren, zeigt, dass ihm diese nicht ermöglicht, seine Hoffnungen zu erfüllen: Sein Erweckungsversuch des toten Mädchens in Fouday scheitert. Lenz hat sich weiter fanatisiert, er steigert sein am Religiösen orientiertes Handeln bis hin zur Identifikation mit Jesus selbst. "Lenz", so Dedner, "entwickelt offenbar vor allem nach seiner Predigt in Gesprächen mit Oberlin seine religiösen Angst- und Wahnvorstellungen" (2013, 51).

Damit weitet sich der Blick auf die Erzählung vom Individuum Lenz auf die ihn umgebende sozial-kulturelle Welt. Sie ist von Armut und Leiden, von Irrationalität und Religiosität, von Mystik und Geisterseherei geprägt. In ihr wirkt ein (protestantisch-pietistischer) Pfarrer mit Hang zum Irrationalismus, der mal sozialreformerisch, mal autoritär, mal esoterisch agiert und dessen Gemeinde davon überzeugt ist, das Leiden als Weg zu Gott betrachten, aushalten und akzeptieren zu müssen.

Im Kontakt mit dieser Welt gelingt es Lenz nicht, Ruhe zu finden und seine Lebenskrise zu überwinden. Mit seiner Krankheit belastet trifft er auf eine Welt, die möglicherweise ebenso wenig gesund wie er selbst ist (vergleiche Janet K. King in: Hinderer 1990, 80), eine Welt, die sich in einem kollektiven Krisenzustand befindet (Großklaus 1982, 68ff.) und in der, wie Kubitschek es formuliert, „Der Wahnsinn […] das 'Normale' und das 'Normale' der Wahnsinn" ist (Kubitschek 1988, 93).

Was bedeutet diese Textstruktur?

An dieser Stelle stellt sich die textimmanent nicht mehr zu beantwortende Frage, wieso Büchner mit Lenz einen Text vorgelegt hat, in dem ein Individuum anders als die anderen Protagonisten der Novelle Kaufmann, Oberlin und seine Kirchengemeinde nicht zu einer inneren Ruhe finden kann.

Lenz ist in diesem Sinne eine befremdliche literarische Figur, denn es gelingt ihm ja phasenweise, innere Ruhe und Gedankenklarheit zu finden, so im Kunstgespräch, in dem er klar formuliert, welche Grundsätze er als Künstler verfolgt hat, bevor er zu Oberlin gekommen ist. Er befremdet und ist rätselhaft, weil er sich völlig anders verhält als Oberlin und Kaufmann, die im pietistischen und im bürgerlichen Milieu ihre Ruhe gefunden haben.

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  • Teil V dieses Artikels befasst sich mit der kontextbezogenen Analyse von Georg Büchners "Lenz".

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