Georg Büchners "Lenz" genau lesen, Teil II

Fachartikel

Teil II des Artikels zu Georg Büchners Novelle "Lenz" befasst sich mit der textimmanenten Analyse der Predigt, vor allem mit deren erstem Abschnitt.

Die Materialien der Unterrichtseinheit Georg Büchners "Lenz" genau lesen zeigen, wie im Unterricht über "Lenz" zunächst von den Irritationen, Fragen und Deutungshypothesen der Schülerinnen und Schüler ausgegangen werden kann, bevor der Interpretationsprozess durch didaktische Entscheidungen beeinflusst wird.

Im Zentrum der Unterrichtseinheit steht die in literarischen Gesprächen zu diesem Text häufig aufgeworfene Frage: "Wieso scheitert Lenz' Versuch, bei Oberlin Ruhe zu finden?". Diese soll im vorliegenden Fachartikel beantwortet werden.

Textimmanente Analyse I

Vor der Predigt ist Lenz zunehmend ruhig geworden

Zu Beginn noch, kurz nach seiner Ankunft bei Oberlin, hatte Lenz in den Nächten an seiner qualvollen Unruhe gelitten. In Oberlins Begleitung entdeckt Lenz die elenden Lebensverhältnisse in Oberlins Gemeinde, in der Menschen in einfachen Hütten an Armut leidend hausen.

Oberlin hat zwei unterschiedliche Seiten

Zwei unterschiedliche Tätigkeiten Oberlins werden beschrieben und "gegenübergestellt" (Will 2000b, 220). Er hört sich Träume und Ahnungen der Menschen an und er wirkt praktisch, sozialreformerisch. Der Kontakt mit Oberlin beruhigt Lenz. Durch den Kontakt mit ihm geht es Lenz zunehmend besser.

Exkurs 1: Büchner unterstreicht zunächst nicht Oberlins mystisch-irrationale, sondern seine praktisch-sozialreformerische Tätigkeit

Eine auf den produktionsästhetischen Kontext bezogene Lektüre des Textes würde schon zu diesem Zeitpunkt zeigen können, dass sich Büchner hier eng an die Darstellung des historischen Oberlin hält. Er zeigt dessen sozialreformerisches Wirken aber auch sein befremdliches Interesse für Träume und Ahnungen der Steintal-Bewohner, durch das er den "kollektiven Steintäler Wunderglauben beförderte", was er - im Oberlin-Nachlass nachweisbar - durch "eine Flut von Traumnotizen und Schilderungen von Vorahnungen und Visionen" (Will 2000, 214) dokumentiert hat. "Oberlin croyait aux visions" (Stoeber, zitiert nach Will 2000, 215) und er rechtfertigte seine extravaganten Ansichten durch eine mystische Bibel-Lektüre.

Die kritische Oberlin-Biografin Camille Leenhardt (1911) weist auf die Gefahr hin, die von Oberlin für seine Gemeinde ausging, und ist erstaunt "que ce sage pédagogue n'ait pas senti le danger qu'il y avait à développer ces préoccupations, à recueillir pour les noter lui-même toutes les rêvasseries qu'il a transcrites" (zitiert nach Will 2000, 218).

Büchner macht Oberlins Mystizismus in "fast leitmotivischem Verfahren zu einem Thema seiner Erzählung" (Will 2000, 220) und damit "zu einem bedeutenden Faktor in der Krankheitsentwicklung seines Protagonisten" (ebenda). Büchner hat "die ganze in religiöse Erregung und Wahn eingesponnene Atmosphäre des Steinthals überall in seiner Dichtung angedeutet" (Voss 1922, 71, zitiert nach Will 2000, 220), zu Beginn der Predigtpassage deutet Büchner nur an, im weiteren Verlauf des Textes entfaltet er diese Seite von Oberlin ausführlich.

Lenz beruhigt sich zunächst, als er Oberlins sozialreformerische Tätigkeit begleitet

Zunächst hält Lenz' Unruhe nachts noch an. Seine Unruhe wird im Text damit begründet, dass Lenz befürchtet, alles könnte nur ein Traum gewesen sein. 

Nun aber, da er sich "in das Leben hineinzuleben versucht, als er tätig wird [...] überwiegen die Augenblicke innerer Wärme, der Hoffnung auf ein harmonisches Sein in der Welt" (Kubitschek 1988, 103). Lenz realisiert, dass alles kein Traum ist, sondern Realität, und beginnt, Oberlins sozialreformerische Tätigkeit begleitend und unterstützend, sich in das Leben hinein zu versenken. Vor der Predigt geht es ihm zunehmend besser, weil er sich in das Leben, nicht in die Träume und Ahnungen der Menschen hineinlebt.

Lenz hilft Oberlin bei der Modernisierung der Gemeinde

Lenz lebt sich weiter in das Leben hinein, unterstützt Oberlin dabei, die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der die einfachen Bauern in seiner Gemeinde leben, zu verändern, zu modernisieren und den Erfordernissen einer modernen Gesellschaft anzupassen. Er fördert die Schulbildung der Bewohner. Durch Kanäle entstehen mehr fruchtbare Ackerflächen, durch Wege wird das Land mit der Stadt verbunden, die in der Gemeinde erzeugten Produkte können transportiert und verkauft werden, neue Produkte können gekauft und in die Gemeinde geliefert werden.

Lenz erinnert sich an eine alte Hoffnung

Nun beginnt Lenz, sich mit Religion zu beschäftigen. Die Beschäftigung hatte er vorher eingestellt. Lenz wird daran erinnert, dass er früher bestimmte, hier nicht präzisierte Hoffnungen gehabt hat, die er durch seine Bibel- Lektüre gewonnen haben musste. Unklar bleibt zunächst, welche Hoffnungen hier gemeint sein könnten. Lenz äußert den Wunsch, "er möge wohl einmal predigen". Es erweist sich, dass er Theologie studiert hat.

Am Sonntagmorgen hält Lenz seine Predigt, deren Verlauf genau gelesen werden muss, um zu verstehen, warum er später keine Ruhe mehr findet.

Die Predigt und ihre Wirkung

Die genau zu lesende Textpassage ist in vier aufeinanderfolgende Abschnitte gegliedert: erstens die Predigt von Lenz (beginnend mit "Die Kirche fing an…"), zweitens die Reaktion der Gemeinde ("wie er schloss, da fingen die Stimmen wieder an"), drittens die innere Reaktion von Lenz auf diese Antwort als einsame Verarbeitung der Predigt im Zimmer ("er ging auf sein einsames Zimmer") und viertens die Verarbeitung der Predigt im Gespräch mit Oberlin ("er erzählte Oberlin ganz ruhig").

Abschnitt 1: Lenz' alte Hoffnung, den Menschen das Leid nehmen zu können 

Die erste Passage gibt Aufschluss darüber, welche Hoffnungen Lenz früher gehabt haben könnte. Er glaubt, den Menschen durch seine Predigt zu helfen, ihnen das zu bringen, was ihm fehlt und was er für sich lange erhofft hatte: Ruhe.

Worin genau besteht Lenz' Hilfe?

Er schafft es, die Menschen, die "von materiellen Bedürfnissen gequält" werden und an diesen materiellen Bedürfnissen dumpf leiden, sich die Augen müde weinen, zu beruhigen. Lenz leitet das "Leiden gen Himmel". Was genau bedeutet aber, "Leiden gen Himmel" zu leiten? Diese auf den ersten Blick unklare und rätselhafte Formulierung erschließt sich in textimmanenter Lektüre nur unzureichend und kann durch eine Kontextualisierung des Satzes in den Kontext christlicher Erlösungstheologien erklärt werden.

Lenz will die Menschen vom Leid befreien

Nach einer rein textimmanent vorgehenden Analyse ist zunächst festzuhalten, dass Lenz den Eindruck hat, es gelinge ihm, im Moment der Predigt die Menschen von ihrem Leiden erlöst zu haben, indem er dieses "gen Himmel" und damit von der Erde weg, also weg von ihrem realem Leben, weg aus der Wirklichkeit leitet.

Exkurs 2: Die klassische christliche Erlösungstheologie

Lenz bewegt sich hier in Einklang mit der klassischen christlichen Erlösungstheologie, die bis heute darauf hinweist, dass Jesus Christus die Leiden der Menschen auf sich nehmend und anderen helfend vorbildhaft aufzeigt habe, wie Gott zu den Menschen steht. Noch heute steht im Zentrum christlicher Predigten das Versprechen, es gebe einen "Gott, der im Diesseits gegenwärtig ist, dessen Reich unter uns schon angebrochen ist – darum hoffen wir IN diesem Leben und in dieser Welt auf das Ende des Leids, darum ist das Trösten ein wesentliches Element unserer christlichen Tradition" (Weber 2005, 3).

Will Lenz in diesem Sinne der christlichen Heilslehre Trost spenden? Ober beschränkt sich seien Predigt einzig auf die Schilderung von Christus' Leidensweges? Der Text gibt hier nur den Hinweis, "sie litten alle mit ihm", was darauf schließen lässt, dass er sich in der Predigt als ein Leidender darstellt. Erst die Einbeziehung des gesungenen Liedes gibt näheren Aufschluss über Inhalt und Ziel der Predigt.

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  • Teil III dieses Artikels befasst sich mit der textimmanenten Analyse des Liedes, mit dem die Gemeinde auf Lenz' Predigt antwortet.

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