Georg Büchners "Lenz" genau lesen, Teil III

Fachartikel

Teil III des Artikels zu Georg Büchners Novelle "Lenz" befasst sich mit der textimmanenten Analyse des Liedes, mit dem die Gemeinde auf Lenz' Predigt antwortet.

Die Materialien der Unterrichtseinheit Georg Büchners "Lenz" genau lesen zeigen, wie im Unterricht über "Lenz" zunächst von den Irritationen, Fragen und Deutungshypothesen der Schülerinnen und Schüler ausgegangen werden kann, bevor der Interpretationsprozess durch didaktische Entscheidungen beeinflusst wird.

Im Zentrum der Unterrichtseinheit steht die in literarischen Gesprächen zu diesem Text häufig aufgeworfene Frage: "Wieso scheitert Lenz' Versuch, bei Oberlin Ruhe zu finden?". Diese soll im vorliegenden Fachartikel beantwortet werden.

Textimmanente Analyse II

Abschnitt 2: Die Gemeinde beantwortet Lenz Predigt mit einem Lied

Die Lenz beruhigende Befriedigung darüber, dass ihm gelungen sein könnte, der Gemeinde auf diesem Weg das Leid zu nehmen, ist nur von kurzer Dauer. Sofort mit dem Ende der Predigt hört Lenz Stimmen, die ein besonderes und befremdliches Lied singen. Dieses Lied zerstört seine kurzfristig gewonnene Ruhe. Das Gefühl "süßen unendlichen Wohls" verwandelt sich in eine schmerzhafte Erschütterung: 

"[...] wie er schloß, da fingen die Stimmen wieder an:

Laß in mir die heil'gen Schmerzen,
Tiefe Bronnen ganz aufbrechen;
Leiden sei all' mein Gewinst,
Leiden sei mein Gottesdienst.

Das Drängen in ihm, die Musik, der Schmerz, erschütterte ihn. Das All war für ihn in Wunden; er fühlte tiefen unnennbaren Schmerz davon. Jetzt, ein anderes Sein, göttliche, zuckende Lippen bückten sich über ihm [nieder], und sogen sich an seine Lippen".

Lenz reagiert auf ein "Drängen in ihm" und auf "die Musik", also auf das aus Melodie und Text bestehende Lied, und auf einen von diesen beiden ausgelösten Schmerz. Was genau sagt das Lied aus? Und warum hat es eine solch intensive schmerzhafte und beunruhigende Wirkung auf ihn?

Das Lied steht in Widerspruch zu Lenz' Absicht

Das Lied steht in offenem Widerspruch zu dem Effekt, den er durch seine Predigt zu erzielen dachte. Seine Predigt zielte darauf, das Leid der Menschen "gen Himmel" zu leiten, ihnen also das Leid zu nehmen. Im Lied aber sprechen Stimmen zu ihm, die das Leid positiv überhöhen. Leid erscheint im Lied im "Imperativ" formuliert nicht als etwas, was es wegzuleiten gilt, sondern was Lebensinhalt sein soll.

Exkurs 3: Das Lied im Kontext des protestantisch-pietistischen Glaubensverständnisses

Bei einer Lektüre des Textes im Kontext zum Beispiel von Schriften des Pietisten Immanuel Gottlob Kolb (1784-1859) erweist sich dieses Verständnis des Zusammenhangs von Glauben und Leid als typisch für das protestantisch-pietistische Glaubensverständnis. Im Mittelpunkt des geistlichen Denkens des Pietisten Kolb "stand die 'Bekehrung', d.h. die mit Aufgabe des Irdischen verbundene Hinwendung des Menschen zu Gott". Auf dem Weg zu Gott sei der Mensch unablässig Leiden, Anfechtungen und Züchtigungen ausgesetzt. "Durch Leiden zur Herrlichkeit", so Kolb, denn: "Je mehr die Reise durch das Erdenleben mit Leiden, Trübsalen und viel Tausend Arten von Ungemach durchwoben ist, desto gesegneter, freudenvoller und erfolgreicher wird der Übergang aus dem Tod in das Leben, aus dieser Welt in den Himmel sein"(Scholz 1998).

Leid soll auch dem Lied in "Lenz" nach paradoxerweise der einzige Gewinn im Leben sein. Leid soll Dienst an Gott sein, das heißt im hingenommenen irdischen Leiden soll man sich als guter gottgefälliger Christ erweisen. Wenn Anz anmerkt, im Lied scheine "sich sinnvoll eine Erbauungspredigt zusammenzufassen" (1981, 160), dann überliest er die weitere Entwicklung von Lenz und den paradoxen Inhalt des Liedes:

Exkurs 4: Das Lied im Kontext von Büchners Technik der Umarbeitung

Büchner hat das Lied durch die Umarbeitung einer Vorlage von Christian Friedrich Richter mit einem spezifischen Sinn versehen. Das ursprüngliche Lied mit dem Titel "Lied eines Krancken" (1714/1718; zitiert nach Will 2000, 39) lautete:

"Leiden ist jetzt mein Geschäfte [...]
Leiden ist jetzt mein Gewinnst;
Das ist jetzt des Vaters Wille,
Den verehr ich sanft und stille;
Leiden ist mein Gottesdienst"

Bei Richter verweist das Leiden auf die "Herrlichkeit, die uns offenbart werden wird" (Anz 1981, 60). Büchner verändert das sich wiederholende "jetzt" in "all", und so wird das Leiden nicht zu einem kurzfristigen überwindbaren Zustand, sondern zu einem letzten und positiven Lebensinhalt. Büchner wendet hier das Verfahren einer Zuspitzung protestantisch-pietistischer Leidensfrömmigkeit an.

"Dadurch, dass er die auf das einst der Erlösung verweisende adverbiale Zeitbestimmung 'jetzt' durch das Indefinitpronomen 'all' ersetzt und die Feststellung durch das optative 'sey' zum Wunsch steigert, wird der in Richters Lied gemeinte Bezug zur Transzendenz aufgehoben und das Leiden zur alleinigen und allzeitigen 'Herrlichkeit'" (Anz 1981, 60). Büchner unterzieht das Lied also einem "poetischen Verfahren der Umdeutung" (Anz 1981, 61). Am Ende steht nicht mehr die Erlösung, sondern das "Verlangen nach Leiden" (ebenda).

Die Bedeutung des Liedes für die Entwicklung von Lenz

In der Erzählung "Lenz" gewinnen die Verse des Kirchenliedes über die Predigt-Situation hinaus ihre Bedeutung. Der Protagonist endet in "Fühllosigkeit, Apathie und Analgesie" (Anz 1981, 162). Von Lenz heißt es am Schluss der Erzählung: "er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen".

Das Lied im Kontext seiner Verwendung in Büchners Drama "Woyzeck"

Die Einbeziehung des Dramas "Woyceck" ist eine weitere Möglichkeit der Kontextualisierung. Woyzeck verschenkt seine letzten Habseligkeiten und findet ein Heiligenbild, auf dem die Liedverse stehen. 

"[...] Das Kreuz is meiner Schwester und das Ringlein, ich hab auch noch ein Heiligen, zwei Herze und, schön Gold, es lag in meiner Mutter Bibel, und da steht:

Leiden sey all mein Gewinst,
Leiden sey mein Gottesdienst.
Herr wie dein Leib war roth und wund,
So laß mein Herz seyn aller Stund.

Mei Mutter fühlt nur noch, wenn ihr die Sonn auf die Händ scheint. Das thut nix."

Auffällig ist hier die Entgegensetzung von Leidgefühl und Gefühlslosigkeit der Mutter. Offenbar hat das Ausmaß des von seiner Mutter erfahrenen Leides zu ihrer Erkaltung geführt. So wie Lenz am Ende erkaltet, so ist auch Woyzecks Mutter gefühllos geworden und abgestumpft.

Lenz' Revolte wehrt sich gegen den Inhalt des Liedes: Leid will er nicht ertragen, sondern bekämpfen

Offensichtlich widerlegt Lenz' Schicksal, seine Revolte und seine Erkaltung den Sinn des Kirchenliedes; es ist zum "Ausdruck christlicher Leidensfrömmigkeit gegenläufig" (ebenda, 162). Alles, was Lenz in der Erzählung unternimmt, ist eine Revolte gegen die im Lied ausgedrückte, das Unglück als sinngebender Lebensinhalt auf dem Weg zur Erlösung hinnehmende Leidensfrömmigkeit.

Exkurs 5: Eine auf den Kontext des Pietismus bezogene Deutung dieser Textstelle ist notwendig

Anz fragt sinnvollerweise nicht, warum Büchner die Religion und ihre "Sprache" grundsätzlich, sondern "warum Büchner die pietistische Sprache in ihrem religiösen Sinn ernst nimmt und widerlegt" (1981, 163): "In dem Lied, das Büchner wohl als Vorlage für eine Umarbeitung für Lenz genutzt hat, erfahren Krankheit, Schmerz und Leid ihre christliche Begründung und Deutung".

Lenz ist mit der pietistischen Leidenstheologie konfrontiert

Das Lied, das Büchner in "Lenz" und "Woyzeck" eingearbeitet hat, "folgt dabei einer pietistischen Leidenstheologie, die Krankheit und Leid als 'Liebeszeichen' Gottes versteht und auffordert, gegen die Anfechtungen des Schmerzes den Weg der Nachfolge Christi, die 'Leidensbahn' als Reinigung und Bewährung des Glaubens zu gehen. Solcher Heilssinn des Leidens begründet die, die bekannte Wendung des Philipperbriefes 'Sterben ist mein Gewinn' aufnehmende, paradoxe Zusammenfügung von Leid und Gewinn. Freilich ist das Paradox der Formulierung 'Leiden ist [...] Mein Gewinnst' nur scheinbar, denn das 'Jetzt' der Leiden, das Richter durch dreimalige Wiederholung besonders hervorhebt, verweist auf die, um mit Paulus zu reden 'Herrlichkeit, die uns soll offenbart werden', und gewinnt aus der Zukunft ihren Sinn. Solche christliche Sinngebung des Leidens von der Erlösung her klingt in Büchners Erzählung an" (Anz 1981, 163).

Mit Anz kann "Lenz" als "eine Kontrafaktur zu biblischen Aussagen wie folgender" gelesen werden: "Wisset, daß ihr […] erlöst seid […] mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes" (Petrus I, 10f.).

Anz verweist darauf, dass in Büchners Revolutionsdrama "Dantons Tod" die Protagonistin Lena - hier nicht Lenz, sondern Lena! - fragt, "ist es denn wahr, dass wir uns selbst erlösen müssen mit unserm Schmerz?". Und er folgert daraus, dass "der Gedanke vom stellvertretenden erlösenden Opfertodes Christi" durch Lenz negiert werde: Die stellvertretende Passion Christi werde "zurückgenommen in die selbsterlösende" Leidenspassion. (Anz 1981, 165).

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  • Teil IV dieses Artikels befasst sich mit der textimmanenten Analyse von Lenz' Reaktion auf das Lied.

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