Erzählperspektive und Desillusion II

Ein Roman der literarischen Moderne

Es ergibt sich aus der Analyse von Meursault als Erzähler, aus der Analyse der Erzählperspektive, dass "L'Étranger" wohl als ein Roman der literarischen Moderne gelesen werden sollte, da er in einer Traditionslinie mit "Ulysse", "Les Faux-Monnayeurs", "A La Recherche du Temps perdu", "La nausée" und weiteren Romanen der Moderne steht.

Verarbeitung von Desillusionierungen

Aus der Analyse von Meursault als Sozialcharakter ergibt sich, dass "L'Étranger" Desillusionierungen verarbeitet. Es ist nicht nur die Frustration eines gescheiterten Intellektuellen, der (um auf Meursault bezogen zu sprechen) sein Studium resigniert abgebrochen hat. Meursault wird nicht nur zum Opfer konservativer Wertvorstellungen, die bereits von fast allen aufgegeben worden sind und nur noch in hypocrisie vor Gericht repressiv als Waffe gegen gesellschaftliche Außenseiter eingesetzt werden. Über das individuelle Schicksal von Meursault hinaus verhandelt der Roman gesellschaftliche, sozial-politische Erfahrungen: Die Erfahrung der Franco-Algerier, die den sich abzeichnenden Untergang Algeriens als Kolonie beobachten und damit den Untergang ihrer eigenen Kultur und Lebensweise. Darüber hinaus die Erfahrungen von Camus, der als engagierter Journalist in den dreißiger Jahren eine Reihe von zur Resignation führenden politischen Niederlagen der undogmatischen Linken beobachten und mit erleiden muss: die Niederlage der spanischen Republik, den Untergang der Weimarer Republik, das Zurückweichen der westlichen demokratischen Regierungen gegenüber den Forderungen Hitlerdeutschlands in München, die ideologischen Moskauer Schauprozesse, die ausbleibenden Reformen im kolonialen Algerien und so weiter (vgl. Schröder 2013).

Desillusion und Indifferenz sind zusammen zu denken. Aus dem Sozialen ergibt sich die Psychologie des Helden, aus seinem Sozialcharakter seine Erzählweise. Aus der Entzauberung der Ideologien, aus dem Untergang der franco-algerischen kolonialen Kultur erwächst die Gleichgültigkeit.

Camus‘ Interpretationen seines Romans: Texte sind manchmal klüger

Die vorliegenden Überlegungen beziehen sich auf das, was "Textintention" (Umberto Eco, zit.n. Kammler 2012, 227) genannt werden kann und erschließen durch genaues Lesen eine "Textbedeutung" (Schutte 1990, 44), die von der Intention des Autors zu unterscheiden ist. Als Kommentator seines eigenen Textes hat Camus mehrfach Deutungen und Interpretationen vorgelegt (vgl. Ansel 2012, 124ff. sowie 57ff.), die der hier vorgestellten widersprechen. Sind andere Interpretationen als die vom Autor selbst vorgelegten damit widerlegt? Wohl kaum. "Texte sind manchmal klüger als ihre Urheber" (Corino 1987, 309). Sie unterliegen unbewussten Einflüssen. So auch bei Balzac, der im Vorwort zur "Comédie Humaine" ankündigt, die ewige Wahrheit von Religion und Monarchie zu beweisen und dabei so klar wie niemand anders vor ihm den Aufstieg der Bourgeoisie und den Untergang von Religion und Monarchie zeigt. Camus selbst ist sich dem Einfluss von unbewussten Faktoren auf das Schreiben bewusst gewesen, wenn er schreibt: "Je suis un écrivain. Ce n'est pas moi mais ma plume qui pense, se souvient ou découvre" (Camus, Carnets, 1959, z.n. Ansel 2012, 65).

Das Ästhetische des Romans

Erich Köhler hat mit einem Hinweis auf Flauberts Forderung, das Ästhetische an der Literatur nicht aus den Augen zu verlieren, darauf hingewiesen, dass es die ästhetische Erfahrung ist, die die Besonderheit des Lesens literarischer Texte und eben auch des Literaturunterrichts ausmacht: "Ce qui me choque dans mes amis Sainte-Beuve et Taine, c’est qu’ils ne tiennent pas suffisamment compte de l’Art, de l’oeuvre en soi, de la composition, du style, de ce qui fait le Beau" (z.n. Köhler 1966, in: Rusterholz 1972, 357).

Die hier vorgelegte Interpretation sagt auch wenig darüber aus, welche ästhetische Erfahrung die Lesenden beim Lesen des Romans machen. Fragt man Lernende nach ihrer ästhetischen Erfahrung mit Camus‘ "L’Etranger", so beschreiben sie sie wie folgt: "Ce qui fait le beau de 'L’Etranger'" ist für sie die befremdliche Einfachheit, "la simplicité" des Protagonisten und seine Art und Weise alle Geschehnisse in schlichter Sprache, "avec des phrases très simples" zu erzählen, als seien sie ohne Bedeutung. Es ist die erdrückende Atmosphäre einer untergehenden Welt, die Figur, die ihnen als rätselhafter unmoralischer Antiheld erscheint, die Stimmung, die aus Entgegensetzung von emotionaler Kälte und klimatischer Hitze entsteht. Es ist das Provokative. Meursault als Figur provoziert und irritiert sie: "Meursault – un être qui manque de vraisemblance, même pour un personnage fictif" (Sachse u.a. 2005, 21, z.n. Steinbrügge 2008, 82). Dazu berührt sie sein Mut, sich gegen die Wertvorstellungen derer zu behaupten, die ihn für Werte verurteilen, die eigentlich bereits keine Legitimität mehr haben, weil ihnen keiner mehr folgt.

Die zentrale Frage, die sich alle stellen, ist die nach der Bedeutung des Mordes, nach dem Grund für Meursaults Gewaltausbruch. Es ist die Aufgabe des Literaturunterrichts, diese Frage durch genaues Lesen so zu klären, dass ästhetische Erfahrungen mit dem Text und nicht mit Dichtungen über den Text gemacht werden.

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Dr. Achim Schröder

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