Unstatistik des Monats: Altersarmut - eine Null zu viel

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veröffentlicht am 28.04.2016

Der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Bochumer Ökonom Thomas Bauer und der Dortmunder Statistiker Walter Krämer haben im Jahr 2012 die Aktion "Unstatistik des Monats" ins Leben gerufen. Sie hinterfragen jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen.

Die Unstatistik des Monats April ist eine Meldung des WDR, der für 50 Prozent der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen Ruhestand in Altersarmut prognostiziert hat ("Fast jedem Zweiten droht eine Armutsrente", Stand: 20. April 2016). Kein Wunder, dass eine solche Zahl zu Deutschlands Rente die Republik in Aufregung stürzt. Nur ist sie falsch, und fünf Prozent sei eine wahrscheinlichere Prognose, wie es in einer Pressemitteilung zur Unstatistik des Monats heißt.

Die Berechnungen der Unstatistik

Fehlersuche
Das Vorgehen des WDR scheine zunächst plausibel. Er ließ sich die augenblickliche Verteilung des Arbeitseinkommens auflisten, nahm an, dass diese auch in Zukunft so bestehen bleibt, und errechnete dann die Rentenansprüche für das bereits jetzt festgelegte niedrigere Rentenniveau im Jahr 2030. Nach dieser Rechnung liegen in der Tat 50 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an oder unter der Grundsicherungsgrenze.

Wo liegen die Fehler? Der erste Denkfehler ist ein Klassiker in der Statistik: Aus Daten eines heutigen Querschnitts kann man nicht auf die Dynamik eines zukünftigen Erwerbslebens schließen. Das folgende krass überzeichnete Beispiel macht das klar: Wenn alle Menschen die erste Hälfte ihres Lebens in Ausbildung mit einem sehr geringen Gehalt verbringen und dann anschließend in der zweiten Lebenshälfte ein so hohes Einkommen hätten, so dass sie auf das ganze Leben bezogen genau das heutige Durchschnittseinkommen erzielten, dann würde die WDR-Methode Altersarmut für die Hälfte der Bevölkerung prognostizieren. Richtig berechnet würde in diesem Beispiel jedoch kein einziger Mensch altersarm werden.

Der zweite Fehler ist ein Klassiker in der Sozialpolitik: Grundsicherung wird nicht auf das individuelle Arbeitseinkommen bezogen, sondern auf das Gesamteinkommen eines Haushalts. Und das liegt in der Regel deutlich über dem Arbeitseinkommen einer einzelnen Person. Laut der WDR-Methode erschiene in einer Ehe mit einem viel und einem wenig verdienenden Partner eine Person altersarm. Nach richtig angewendetem Recht wäre der Haushalt jedoch keineswegs altersarm.

Altersarmut überschätzt
Auch wenn die WDR-Rechnung das Problem der Altersarmut in grotesker Weise überschätzt, ist erhöhte Aufmerksamkeit geboten. Berechnungen des wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium aus dem Jahr 2013 kommen im pessimistischsten Szenario auf einen Anstieg der Grundsicherungsempfänger von derzeit 3 Prozent auf 5,4 Prozent, also fast eine Verdoppelung. Dennoch: eine Null weniger als beim WDR.