Wolfensteins "Städter" (1914/1920) genau lesen

Fachartikel

Dieser sich auf das literaturdidaktische Modell des "genauen Lesens" (Chirollo/Schröder 2017) beziehende Fachartikel zu Wolfensteins Gedicht "Städter" (1914/1920) erläutert die fachdidaktischen Überlegungen, die der Unterrichtseinheit zu dem Gedicht zugrunde liegen. Eine ausführlichere Downloadversion des Fachartikels vertieft die hier skizzierten fachdidaktischen Darlegungen.

Der Fachartikel vertieft die in der gleichnamigen Unterrichtseinheit formulierten fachdidaktischen Überlegungen und konkretisiert ein literaturdidaktisches Modell (Chirollo/Schröder 2017), das darauf abzielt, literarische Texte zunächst genau auf die Reaktionen der Leserinnen und Leser hörend zu lesen. "Ausgangspunkt für die inhaltliche Erschließung" werden so, wie im Hessischen Referenzrahmen Schulqualität gefordert, die Fragen der Schülerinnen und Schüler. Von ihren Fragen ausgehend gilt es, literarische Texte textimmanent, kontext-und rezeptionsbezogen zu analysieren, um besser zu verstehen, was nicht spontan verstanden wird. Wolfensteins Gedicht, so die hier vertretene These, sollte als ein irritierendes Kunstwerk gelesen werden, das für unsere Schülerinnen und Schüler eine Vielzahl an Fragen aufwirft, weil es "Stutzpunkte" (Rosebrock 2019) enthält. Die Stutzpunkte gilt es in einem literarischen Gespräch als Ausgangspunkt von Lernprozessen wirksam werden zu lassen, um die vom Text für die Schülerinnen und Schülern aufgeworfenen Fragen dann textimmanent, kontext-und rezeptionsbezogen genau lesend zu klären. Auf diese Weise kann ein Literaturunterricht gestaltet werden, der seinen hermeneutischen Auftrag ernst nimmt.

"Städter" – ein befremdlicher Text

Im Zentrum des Unterrichtsmodells steht die thematische Fragestellung "Wieso eine so vehemente Ablehnung der Stadt?".

Das Befremden beim Lesen dieses Textes zeigt sich an einer Reihe von Fragen, die bei einem involvierten Lesen zu der folgenden Sachanalyse führen:

  • Wieso ist das alles so eng, dass sich die Städter wie gewürgt fühlen?
  • Warum erzählt das lyrische Ich davon, dass es weint? Und warum weint es?

Als Deutungshypothese wird die Annahme verfolgt, dass die Großstadt vom lyrischen Ich in paradoxer Weise als vereinsamend empfunden wird. Es gelingt ihm nicht, seine Bedürfnisse, das heißt seine innere Natur im Rahmen der äußeren (Stadt-)Natur-Umgebung in Einklang zu bringen. Inmitten der großen Zahl von Menschen, die in der Stadt leben, vermag es seine "Begierde", das heißt seinem Bedürfnis nach engem Kontakt mit anderen Menschen, nach der Überwindung seiner Einsamkeit nicht zu erfüllen, obwohl sich ja gerade hier die Möglichkeiten leicht ergeben würde, denn viele Menschen sind anwesend, es herrscht ja große Nähe. Unklar bleibt, der Text lässt offen, warum ihm dies nicht gelingt und wieso er die Stadt als seiner inneren Natur ganz und gar entgegengesetzt wahrnimmt. Im Gedicht drückt sich also eine harsche und in ihrer Radikalität befremdliche Ablehnung städtischen Lebens aus, die für uns sicher punktuell, aber nicht in ihrer Gesamtheit nachvollziehbar ist. Dies wirft die Frage nach dem Begründungszusammenhang auf: Wieso eine so vehemente Ablehnung der Stadt? Und wie sehen Schülerinnen, Schüler und Lernende, die sich nicht einem der beiden Geschlechter zugehörig fühlen, die Stadt als Lebensraum?

Der Text im Kontext

Im Kontext erweist sich Städter als Ausdruck einer für die Epoche in Deutschland und Teilen Europas durchaus typische Zivilisationskritik in der Zeit einer spezifisch bürgerlichen Revolte gegen den technischen Fortschritt und die ihn begleitenden Rationalisierungstendenzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Der Text als Gegenstand von schematischen Form-Inhalts-Analysen

In der traditionellen schulischen Betrachtung des Gedichts überlagern Form-Inhalts-Analysen eine inhaltsbezogene hermeneutische Auseinandersetzung mit dem Text.

Literatur/Internetadresse

Chirollo, Natalie / Schröder, Achim (2017): Literarisches Verstehen durch "genaues Lesen": ein Drei-Phasen-Modell zur Planung von Literaturunterricht. Fachartikel. Wiesbaden: Lehrer-Online 2017, www.lehrer-online.de/artikel/fa/literarisches-verstehen-durch-genaues-lesen-ein-drei-phasen-modell-zur-planung-von-literaturunter (Abruf am 08.08.2022).

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