Exkurs: Charakterisierung und Sozialcharakter I

Meursaults Charakter ist ein Sozialcharakter

Versuchen wir zunächst, die soziale Lage derer zu bestimmen, die wie Meursault und seine Umgebung empfinden und leben, und untersuchen wir die Frage, ob Meursaults scheinbar individuelle Charakterzüge im Kern nicht Ausdruck des Sozialcharakters einer gesellschaftlichen Gruppe, Schicht oder Klasse sind.

Das Leiden der Unterschicht der Français de souche européenne

Wolfgang Albes verweist in diesem Zusammenhang auf die Unterschicht der Kolonialfranzosen in Algerien, der Français de souche européenne, als soziale Referenzgruppe, auf die sich eine Analyse von Meursault beziehen muss:

"Gerade die algerisch-französische Unterschicht als die vom kolonialen System am wenigsten profitierende muß am stärksten die soziale Bedrohung durch die unmittelbare Konkurrenz in Form der billigen Arbeitskraft der indigènes um weniger qualifizierte Posten empfinden" (Albes 1990, 23).

Das Leiden aller Kolonialfranzosen am Klima

Das erdrückende, feindliche und letztlich fremde Klima, das Meursault mehrfach beklagt, ist ein gängiges Motiv bei der Beschreibung des Lebens aller Français de souche européenne im Kolonialalgerien (vgl. Albes 1990, 19f.). So schreibt Albert Memmi 1957 in seinem Portrait du colonisé: "la dévaluation du colonisé s'étend à tout ce qui le touche. A son pays, qui est laid, trop chaud, étonnamment froid, malodorant, au climat vicieux" (z.n. Albes 1990, 19). Das feindliche Klima ist der "Pioniermythos des Kolonisationsphase" (ebd.), so schreibt Fanon: "La nature hostile, rétive, foncièrement rebelle est effectivement représentée aux colonies par la brousse, les moustiques, les indigènes et les fièvres. La colonisation est réussie quand toute cette nature indocile est enfin matée" (Fanon 1968, 178; z.n Albes 1990, 19). "Letzten Endes bleibt beim colonisateur gegenüber dem colonisé in diesem Bereich ein Gefühl der Unterlegenheit aufgrund der Erkenntnis bestehen, dass er körperlich dem Klima und generell den Naturgegebenheiten der Kolonie nicht in dem Maße gewachsen ist, wie der indigène-colonisé. Seine daraus resultierende Aggression richtet sich umso stärker auf seinen kolonialen Gegenspieler, dem gegenüber er die Überlegenheit voll ausspielen kann" (Albes 1990, 20). Pierre Bourdieu beschreibt das Klima und seinen Einfluss auf die koloniale Gesellschaft wie folgt: Der Kolonialherr muss das klimatisch fremde Land umgestalten "un paysage nouveau se dessine, les champs travaillés à la machine [...]. C'est ainsi que, peu à peu, le colonisateur crée un environnement qui lui renvoie son image et qui est la négation de l'univers ancien, un univers où il se sent chez soi, où, par un renversement naturel, le colonisé finit par apparaître comme étranger" (Bourdieu 1958, 114).

Der Körperkult als Verarbeitung des Leidens

Pierre Bourdieu verweist in seiner Algerienstudie auf den Körperkult als typische Verarbeitungsform der krisenhaften Lebensweise dieser Pied-noir: "générosité, virilité, culte du corps, c'est-à-dire de la jouissance, de la force et de la beauté physique, culte dont le temple est la plage, de l'autre [côté] ... impuissance, intellectualisme, ascétisme etc. Mais il se définit aussi contre l''Arabe' qui, à ses yeux, incarne au contraire la vie instinctive, l'inculture [...] De là une définition de soi fondamentalement contradictoire" (Bourdieu 1958, 114). 

Es scheint naheliegend, eine Analyse von Meursault kontextbezogen, das heißt durch eine genaue Betrachtung der sozialen Erfahrungen der Français de souche européene zu leisten und sich dabei auf die Ergebnisse soziologischer Forschung und auf zeitgenössische Schriften zu beziehen. Yves Ansel folgt dieser soziologischen Einordnung von Meursault, wenn er von ihm unter Verweis auf Bourdieu schreibt: Meursault "est un pied-noir typique, 'les colons sont […] des déracinés, en rupture avec leur univers traditionnels, souvent isolés'" (Ansel 2012,. 84f.; Ansel zitiert hier Bourdieu 1958/1961, 126).

Idealisierung des Pied-noir als Reaktion auf das Leiden

Camus bildet in seinen literarischen Texten das Bedrohungsgefühl, die Lebensweise, die Identitätsbildung und die Isolierung der Pied-noirs jedoch nicht nur im Sinne einer Widerspiegelung von gelebter sozialer Erfahrung ab. Er gestaltet sie aktiv in Texten wie "Un été à Alger" (1936), indem er soziale Erfahrungen idealistisch überhöht. Camus stilisiert die Pieds-noirs zum einfachen, direkten, schroffen, zwar zu Gewalttaten neigenden, aber letztlich guten und gerechten Menschen des Mittelmeerraumes:

"Les maisons du Colon [...] [donnent une] image convaincante de leurs vertus: [...] Si l'on juge par l'édifice, ces vertus sont au nombre de trois: la hardiesse dans le goût, l'amour de la violence, et le sens des synthèses historiques" (Camus, Essais, Paris: 1965, 825; z.n. Albes 1990, 20).

"Cette race est indifférente à l'esprit. Elle a le culte et l'admiration du corps […] j'ai l'espoir insensé qu'à leur insu peut-être ils sont en train de modeler le visage d'une culture où la grandeur de l'homme trouvera enfin son vrai visage" (1936, Camus, Oeuvres complètes 1, 121ff., z.n. Ansel 2012, 83).

Ansel kommentiert Camus' Idealisierung der einfachen, schlichten und genussorientierten Lebensweise der Pieds-noirs wie folgt: "Exalter le corps et les joies simples (de la nage, du plaisir physique, de la boxe ou de la pétanque), c'est indirectement critiquer la cérébralité des intellectuels parisiens et l'emprise des convenances sur tous les peuples compassés du nord". Er zitiert die Beschreibung eines von Camus als Typus beschriebenen Mannes diese Mittelmeerkultur: "Mon camarade Vincent, qui est tonnelier et champion de brasse junior, a une vue des choses [...] plus claire. Il boit quand il a soif, s'il désire une femme cherche à coucher avec" (84).

Meursault: ein idealisierter Pied-noir

Unschwer ist in all diesen idealisierenden Portraits Meursault wiederzuerkennen, der sich über convenances hinwegsetzt und seine sentiments über alle Konventionen und Traditionen stellt.

Es gibt viele deutliche Anzeichen einer "excaltation de l'esprit Pied-noir" auch im Roman, Anzeichen einer "construction d'une image idéale des Francais d'Algérie", ihres "laisser-aller" (Camus, La culture indigène. La nouvelle culture méditerranéenne, OC 1, 569-570; z.n. Ansel 2012, 84). Von ihnen erhofft sich Camus eine Erneuerung und Vermenschlichung der europäischen Kultur, die in den dreißiger Jahren dabei ist, durch Diktaturen und ihre Ideologien zerstört zu werden:

"Ces barbares qui se prélassent sur des plages, j'ai l'espoir insensé qu'à leur insu peut-être ils sont en train de modeler le visage d'une culture où la grandeur de l'homme trouvera enfin son vrai visage. Ce peuple tout entier jeté dans son présent vit sans mythes, sans consolation. Il a mis tous ses biens sur cette terre et reste dès lors sans défense contre la mort" (Camus, L'été à Alger, OC 1, 124).

Wie die von Camus idealisierten Français d'Algérie betreibt Meursault einen "culte du corps", wenn er sich immer wieder an den Strand begibt oder wagemutig auf einen fahrenden Lastwagen springt, wie sie setzt er sich über Konventionen und Traditionen hinweg, lebt ein 'intensives aber kurzes Leben', wie sie steht er in Konkurrenz und Konflikt mit den Arabern, wie sie definiert er sich zugleich gegen die Welt der intellektualisierten Festlandfranzosen, wie sie erträgt er das Klima nicht.

Seine Charaktereigenschaften sind nicht individuell und einzigartig, sondern Ausdruck des Sozialcharakters der Français de souche européenne, den Camus in vielen anderen Texten, aber letztlich auch im Roman nicht nur abgebildet, sondern idealisierend gestaltet hat: Meursault wird sich im zweiten Teil des Romans auch zu einem positiven Helden entwickeln, dem Unrecht geschieht und der heldenhaft nur seiner Wahrheit verpflichtet zu handeln scheint.

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Dr. Achim Schröder

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