Was ist Gedächtnis? Was ist Erinnerung?

Auszug eines Interviews des Goethe-Instituts mit der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann.

Goethe-Institut: Soziales, kollektives und kulturelles Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen, Verdrängen und Verschweigen, Selektieren und Zurechtbiegen […] Können Sie uns kurz aufklären, wie man als Individuum und Gesellschaft an all diesen Gedächtnisformen in der Praxis teilhat? 

Aleida Assmann: […] nicht nur Individuen […] erinnern [sich], sondern auch Gruppen, Gesellschaften und Nationen. Erinnern und Vergessen wurden als ein wichtiger Aspekt sowohl des sozialen Zusammenlebens als auch der Politik erkannt. Erinnerung an die gemeinsame Geschichte spielt, wie viele nationale Gedenkanlässe bezeugen, eine große Rolle auch für die politische Zugehörigkeit der Nachgeborenen. Während das individuelle Gedächtnis an die kurze Zeitspanne eines Menschenlebens gebunden ist […], ist das generationenübergreifende kulturelle Langzeitgedächtnis durch Medien, Institutionen und Riten gestützt. […] Man hebt die Ereignisse hervor, die die eigene Person aufwerten und ignoriert alles, was ein positives Selbstbild in Frage stellen könnte.

G.-I.: [..] Können Sie rückblickend auf das vergangene Jahrzehnt erläutern, wo sich Veränderungen [der Erinnerungskultur] bemerkbar gemacht haben?

A.A.: Eine wichtige Verschiebung […] ergab sich dadurch, dass nicht nur heroische Taten großgeschrieben wurden, sondern auch dem individuellen Leiden Raum gegeben und Verbrechen erinnert wurden, die man lieber vertuscht hätte. Die rückwirkende Anerkennung von Verbrechen und Traumata ist ein wichtiger Faktor geworden […]. 

G.I.: Was die DDR-Vergangenheit betrifft, herrscht dagegen eher „Ostalgie“ vor. […]

A.A.: Wir haben es hier mit einer [Unterschied] zwischen sozialem und politischem Gedächtnis zu tun. Während die DDR heute offiziell als Unrechtsstaat verurteilt wird, lebt sie in der Erinnerung der Menschen als wichtige Phase ihrer eigenen Biografie und Identität fort. Die abrupte und pauschale Entwertung eines halben oder ganzen gelebten Lebens führt zum Erinnerungswiderstand, den wir „Ostalgie“ nennen.

(https://www.goethe.de/ins/br/de/kul/fok/cul/20809570.html)