Migration nach Westdeutschland – Sichtweise Ostdeutsch

Als im Zuge der Wiedervereinigung immer mehr Ostdeutsche auf der Suche nach Arbeit nach Westdeutschland zogen, trafen sie dort oft nicht auf die erwartenden Zustände. In dem Magazin „Der Spiegel“ vom 19.02.1990 mit dem Titel „Wieso kommen die noch“ berichtet.

In seiner alten Heimatstadt Neuruppin [Brandenburg] gilt der Übersiedler Martin Laubsch, 43, heute als gemachter Mann. Vor zwei Wochen, auf Besuch im Osten, saß er mit alten Freunden im "Brauhof", seiner ehemaligen Stammkneipe. Beim Bier trumpfte der gelernte Schlosser groß auf: Eine Arbeit habe er im Westen schon gefunden und auch eine Wohnung. Die sei zwar klein, "aber für den Anfang reicht es". Alles falsch. In Wahrheit haust Laubsch unter erbärmlichen Umständen in einer dringend renovierungsbedürftigen Turnhalle im Zentrum von Bochum. Jeden Tag kommt es in dem Notquartier zu Streit und Schlägereien, und nachts kann der Mann kaum schlafen […]. Einen Job hat der Schlosser nicht einmal in Aussicht: Wo immer er sich bislang beworben hatte, wurde er abgewiesen. […]

Das erhoffte flotte Leben im Westen rückt für die meisten Ostbürger, die jetzt noch kommen, in immer weitere Ferne. Die Massenquartiere, ursprünglich als Provisorien gedacht, werden zu Dauerlösungen. […]

Sie habe in den ersten Nächten "kein Auge zugemacht", klagt Beate Schrimpf, Küchengehilfin aus Erfurt: "Immer brannte das Licht, und der Raum ist nicht abschließbar." Entgeistert stellt ihr Freund Heiko Hademann fest: "So haben wir uns den Westen nicht vorgestellt." [...] Immer mehr DDR-Bürger […] wechseln jetzt spontan über die Grenze; nur in wenigen Fällen wird der Umzug in die neue Heimat sorgfältig geplant. Das Erschrecken über die Schattenseiten des real existierenden Kapitalismus ist dann um so größer. […]

(https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13507374.html)