Wir mussten nicht mehr kämpfen

Ein Interview mit Jörg Rohleder, einem MTV Journalisten aus den 90er-Jahren.

Wir waren eine Art “gap”-Jugend. Die Generationen davor haben die großen Kämpfe ausgefochten. Gegen Atomkraft, NATO-Doppelbeschluss, den Schah von Persien. Wir mussten nicht mehr kämpfen. Natürlich gab es den Irakkrieg, die Kriege auf dem Balkan, die Brandanschläge von Mölln und Rostock, dennoch empfand ich das Jahrzehnt, zumindest damals, als eher unpolitisch. Pop war die Währung, alles andere blendeten wir gekonnt aus. Und im Endeffekt war die Welt in den 90ern eine einmalig blockfreie: Der Kalte Krieg war vorüber, die Zwillingstürme [in New York] noch nicht eingestürzt.

[…] Ich glaube, dass man erst rückwirkend begreift, welche Freiheit den 90er-Jahre-Kindern eigentlich geschenkt wurde. Ein Jahrzehnt zuvor musste man für individuelle Chancen, Modelle und Freiheiten noch richtig kämpfen. Wir mussten das nicht. Bei uns hat der Direktor in der Abiturrede gesagt: Ihr könnt Kanzler, Astronaut oder Nobelpreisträger werden. Die Welt stand uns offen. Alles schien möglich. Leider konnten wir mit all der Freiheit und all den Chancen nicht wirklich etwas anfangen. Es scheint, als seien alle Chancen genau eine Chance zu viel. Wir haben nicht einmal gelernt, Bewerbungen zu schreiben. Abiturienten von heute bekommen die Angst vor morgen, Jobunsicherheit etc. mit dem Zeugnis überreicht, wir bekamen einen historisch einmaligen Freibrief. […] Wir hatten keine Zukunftsangst. In den 90ern dachte jeder, die Welt würde wirklich zu einem besseren Ort werden.

https://www.theeuropean.de/joerg-rohleder/3491-lebensgefuehl-90er