Perspektiven und Forschungsstand

Inwieweit kommt im Fremdsprachenunterricht tatsächlich interkulturelles Lernen zustande? Forschungsstand und Perspektiven zum Thema werden hier vorgestellt.

Perspektiven des interkulturellen Lernens

Kompetenzförderung

Die Kompetenzerweiterung mithilfe der hier vorgeschlagenen Arbeitsfragen müsste wie andere Ansätze einer empirischen Prüfung unterzogen werden. Zum Forschungsstand, bezogen auf andere Wege der Kompetenzförderung, liegen bereits einige interessante Aufsätze vor:

Status quo von interkulturellem Lernen im Unterricht

Altmayer (2005, Seite 4) bemerkt in seiner Rezension der Studie von Röttger (2004) über interkulturelles Lernen im DaF-Unterricht: "Wenig bis nichts wissen wir allerdings bis heute darüber, was unter dem Stichwort 'interkulturelles Lernen' im Unterricht tatsächlich geschieht, wie die schönen theoretischen und didaktischen Konzepte in der Praxis 'ankommen' und inwieweit in einem solchen 'interkulturellen' Fremdsprachenunterricht tatsächlich 'interkulturelles' Lernen zustande kommt". Er betont außerdem, dass "mit Hilfe empirischer Forschungsmethoden die überaus bescheidene 'Realität' des interkulturellen Lernens schonungslos aufgedeckt wird, was beim Lesen durchaus einer gewissen Desillusionierung gleichkommt. Mit immer differenzierteren Zielbeschreibungen für das 'interkulturelle Lernen' oder [für] die Entwicklung einer 'interkulturellen Kompetenz' allein, so viel wird zumindest deutlich, werden wir nicht weiter kommen. Es wird noch erheblicher Anstrengungen aller Beteiligten, der Wissenschaftler ebenso wie der Praktiker, bedürfen, wenn wir die bislang noch eher in den luftigen Höhen der Theorie angesiedelten Konzepte des 'interkulturellen Lernens' im Fremdsprachenunterricht auch praktisch umsetzen wollen." (Altmayer 2008, Seite 33).

Praktische Umsetzung interkulturellen Lernens

Röttger skizziert, in welche Richtung diese Anstrengungen gehen sollten, damit ein endgültiger "Kollaps des Interkulturalitätsparadigmas" (Altmayer 2008, Seite 33) vermieden werden kann. Es gelte, so Röttger, die Wahrnehmung des Zielsprachenlandes durch die Schülerinnen und Schüler präzise daraufhin zu untersuchen, wo sich abwertende Haltungen zeigen könnten. Es müssen kontrastive sprachlich-kulturelle Zusatzmaterialien erstellt werden, die Unterschiede darstellen, die Verwirrung, Befremden und Unsicherheiten stiften. Es ist Röttger zuzustimmen, wenn sie schließt: "Hinzufügen möchte ich, dass nach 30 Jahren interkulturellem Lernen und interkultureller Kommunikation weniger theoretisch debattiert als die Unterrichtspraxis überprüft werden sollte."(Röttger 2010).

Zum Stand der didaktisch-methodischen Forschung

Interkulturelle Lernarrangements stärker in den Blick nehmen

Der Blick auf einige vorliegende Unterrichtsvorschläge zeigt, dass die empirische Erforschung interkultureller Lernprozesse die Konzeption von interkulturellen Lernarrangements stärker in den Blick nehmen müsste. Diese beschränken sich häufig auf einfache und letztlich in Bezug auf das Toleranzziel unproblematische Unterrichtsgegenstände, auf Überraschungen und Ratlosigkeit im Alltag, auf Fragen wie "Wozu dient das Messer beim französischen Essen?" (Nieweler 2006, Seite 238) und "Wieso sieht ein gemachtes Bett in Frankreich anders aus?" (Découvertes vert, Band 3, Stuttgart: Klett 2001, Seite 21).

Abbau von Klischees

Unklar bleibt zumeist, welche "Klischees" denn konkret abgebaut werden sollten. Selten blitzt wenigstens eine Perspektive für den Umgang mit konkret "Bedrohlichem" auf, allerdings nur dann, wenn den Lehrenden die historische Distanz zum Phänomen groß genug scheint. So im Unterrichtsvorschlag zur kolonialen Postkarte "Types Algériens" (Schumann 2007b, Seite 38), bei dem Schumann hofft, möglicherweise würden "auch sozialpsychologische Konstanten in der Sicht auf den Maghreb (…) sichtbar, die den Schülerinnen und Schülern die eigene Abhängigkeit von stereotypen Vorstellungen verdeutlichen und ihnen zu Einsichten in die Mechanismen der Fremdwahrnehmung verhelfen" (Schumann 2007b, Seite 37). In dem Arbeitsauftrag zur Postkarte beschränkt sich der Impuls jedoch auf die vage bleibende Frage "Quelle est votre réaction devant l'image? Qu'est-ce qu'elle signifie pour nous…?". Dabei wäre doch konkret zu fragen, ob die Bedrohlichkeit der "types algériens" noch heute als "sozialpsychologische Konstante" in der Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler besteht. Auffällig ist zudem, dass das "Vorurteil" als Kategorie der didaktischen Analyse zumeist gemieden und stattdessen der viel gefälligere Begriff "Stereotyp" verwendet wird, dem ja gerade das Element der Abwertung fehlt.

Scheitern interkultureller Bildungsprozesse durch Vorurteile

Mitunter droht das Unterfangen, interkulturelle Bildungsprozesse in Gang zu setzen, nicht nur zu scheitern, sondern sich gar ins Gegenteil zu verkehren, wenn Vorurteile im Unterricht geradezu geschürt werden. Diese Befürchtung soll an einem Beispiel konkretisiert werden: Die Behandlung von Lektüren wie "Anne ici-Selima là-bas" oder das Chanson "Aicha" von Khaled und Goldmann machen es unverzichtbar, auf die Ungleichbehandlung von Frauen in arabisch-islamischen Kulturkreisen hinzuweisen. Die Protagonistin des Romans wird von islamischen Fundamentalisten angegriffen, die Protagonistin in Khaleds Chanson wehrt sich gegen den um sie werbenden Mann mit der Begründung, sie wolle von ihm nicht in einem vergoldeten Gefängnis gehalten werden.

Textbeispiel aus dem Chanson "Aicha"

Elle a dit: "Garde tes trésorsMoi je vaux mieux que tout çaDes barreaux sont des barreaux même en orJe veux les mêmes droits que toiDu respect pour chaque jour moi je ne veux que l'amour"

Patriarchale Struktur der fremden und der eigenen Kultur bewusst machen

Die Protagonistin Aicha zieht den Status der alleinstehenden freien Frau dem der verheirateten unfreien Frau vor. Bei der Besprechung des Textes muss darauf geachtet werden, dass den Schülerinnen und Schülern nicht nur die patriarchalen Strukturen der fremden Kultur, sondern auch die der eigenen Kultur bewusst werden. Sonst droht die Gefahr, dass die fremde, hier die frankophone islamische, Kultur als ein Ort der Unterdrückung und patriarchaler Denk- und Lebensweisen abgewertet wird. Im Gegensatz dazu würde die den Schülerinnen und Schülern vertraute europäische Kultur als fortschrittlich und überlegen aufgewertet. Der Versuch, interkulturelles Lernen in Gang zu setzen, könnte scheitern und sich in das Gegenteil verkehren, Islamophobie würde aktiv geschürt.

Gründliche Analyse des Fremden an der Zielsprachenkultur

Derartige Intoleranzwirkungen können dazu führen, dass interkulturelle Bildungsprozesse im Fach Französisch scheitern, wenn die Lehrenden und Lernenden das Fremde an der Zielsprachenkultur (und der eigenen Kultur) nicht zunächst in Selbstexploration gründlich analysieren. Zu fragen wäre, was uns an den Zielsprachenkulturen fremd vorkommt, was wir nicht verstehen, was wir deshalb vielleicht spontan abwerten, was uns aber, wenn wir es denn verstünden, integrieren könnten, um dadurch unsere Handlungsmuster zu erweitern oder aber unsere verinnerlichten Handlungsmuster überzeugter vertreten beziehungsweise in Frage stellen zu können.

Autor

Portrait von Dr. Achim Schröder
Dr. Achim Schröder

Zum Profil

Lizenzinformation

Frei nutzbares Material
Die von Lehrer-Online angebotenen Materialien können frei für den Unterricht genutzt und an die eigene Zielgruppe angepasst werden.