Albert Camus' "L'hôte" genau lesen

Fachartikel

Dieser Fachartikel zu zu Camus Erzählung "L'hôte" (1952-1957) beruht auf dem literaturdidaktischen Modell des "genauen Lesens" (Chirollo/Schröder, 2017). Er erläutert die fachdidaktischen Überlegungen, die der Unterrichtseinheit zugrunde liegen.

Schwierigkeiten bei der Arbeit mit dem Text

Albert Camus' Erzählung "L‘hôte" ist ein vielfach rezipierter Text. Schülerinnen und Schüler wie Lehrerinnen und Lehrer stützen ihre Auseinandersetzung mit literarischen Texten im Literaturunterricht erfahrungsgemäß häufig auf Sekundärliteratur und so kann der Text von ihnen nicht unbeeinflusst von einer problematischen Deutungstradition gelesen werden, die dem Text Eigenschaften und Bedeutungen zuschreibt, welche ihm bei genauem Lesen nicht zu entnehmen sind: Daru gilt den meisten Interpreten nicht als eine historische Figur, sondern als überzeitlicher tragischer Held (Ansel 2012).

Verdrängung des Kolonialismus aus der Literaturgeschichte

Die Verdrängung der Kolonialgeschichte aus der französischen Literaturgeschichtsschreibung hat den Zugang zu einer unvoreingenommen Rezeption des Textes verstellt. Angelehnt an die Idee, dass Camus ein heldenhafter antikolonialer Schriftsteller gewesen sei, was sich bei näherer Betrachtung als Fehlschluss herausstellt (Said 2012, Ansel 2012), wird auch Daru zumeist als bewundernswerter Held gelesen.

Problematische Lesarten

Exemplarisch sei hier auf einige problematische Lesearten des Textes hingewiesen (ausführliche Rezeptionsanalyse in Schröder 2018):

Otto Manns "Interpretationsansätze für die Behandlung von Camus' L'Hôte" (Mann 1969) schlagen vor, "die animalische Physiognomie" des Gefangenen "als die bewußt stilisierte Außenseite einer inneren Primitivität" zu lesen. Die Scheidewegsituation wird als innere Erleuchtung des Arabers gedeutet, die das Resultat von Darus positivem Vorbild sei. Diese Lesart verstärkt die im literarischen Text gestaltete ethnozentrische Perspektive anstatt sie zu verstehen.

Die von Gisela Böttcher (1997) vorgelegten "Anmerkungen" zielen darauf ab, herauszuarbeiten, dass es ein Leben ohne Entscheidung, ein indifferentes Verhalten nicht geben könne. Ähnlich wie Böttcher gestalten Frech/Zoch (2011) Daru zu einem tragischen Helden. Für sie werde er allein deshalb schuldig, weil er aus individueller Schwäche in einem moralischen Dilemma keine Entscheidung zwischen seinen Handlungsoptionen "livrer l'Arabe à la police de Tinguit" und "libérer l'Arabe, le forcer à prendre la fuite" getroffen habe. Daru aber, so zeigt sich bei genauer Lektüre, trifft früh eine Entscheidung und von einer Indifferenz des Protagonisten kann keine Rede sein.

Schmidt (2011) sieht Daru hingegen als positiven Helden, der die Folgen seiner Entscheidung tapfer trägt und so das Absurde überwinde. Dabei wird übersehen, dass Daru am Ende ein kein absurdes, sondern ein tragisches Schicksal erleidet, das er nicht überwinden kann.

Ergebnisse einer genauen textimmanenten Lektüre

Bei genauer Lektüre erscheint das in der Rezeption vorherrschende Bild von Daru als fragwürdig, denn dieser erweist sich als eine ethnozentrisch und rassistisch denkende tragische Figur:

Daru revoltiert nicht gegen die Ungerechtigkeit, der die Araber ausgeliefert sind, nicht gegen die Hungersnot, nicht gegen das Kolonialsystem, das ihn mit zu verantworten hat, nicht gegen die Kolonialadministration, die ihn nicht rechtzeitig beendet und die Getreidelieferungen viel zu spät anfordert, sondern gegen einen Befehl, der ihm lästig ist, weil er sein Ehrgefühl als guter Gastgeber verletzt. Er revoltiert moralisierend gegen die von ihm als maßlos empfundene Gewalt des gefangenen Mörders, er revoltiert gegen die blutrünstige Tat des Arabers, die er nicht verstehen kann, weil er in einer von den Arabern und ihren Problemen völlig isolierten privilegierten Welt lebt.

Was ist die vom Text aufgeworfene zentrale Deutungsfrage?

Literarische Gespräche über erste Leseeindrücke zu "L'hôte" führen in der Regel zu der wie folgt oder ähnlich formulierten Frage, warum Daru den Araber nicht sofort freilässt, was ihn ja gerettet hätte.

Und wie ist sie zu beantworten?

Daru gerät deshalb zwischen die Fronten und isoliert sich vollständig von seiner Umwelt, weil er den Araber weg von seiner Heimat führt, in der er willkommen ist (Balducci berichtet, dass die Einwohner seines Dorfes ihn befreien wollten: "Son village s'agitait. Ils voulaient le reprendre") und ihm den Weg entweder ins Exil oder ins Gefängnis weist, anstatt ihn auf der Stelle freizulassen. Eine sofortige Freilassung des Arabers hätte beide gerettet. Sie ist für ihn aber undenkbar, weil er eine historisch zu deutende Figur ist, dessen koloniale Weltsicht den Araber nicht als Opfer des Kolonialismus, sondern als unbeherrschten Mörder aus Affekt erscheinen lässt. Und diesen glaubt Daru moralisch verurteilen zu müssen.

Literatur

Ansel, Yves (2012): Albert Camus, totem et tabou. Politique de la postérité, Presses Universitaires de Rennes: Rennes.

Böttcher, Gisela (1997): Albert Camus, L’Hôte. Anmerkungen zum schülerorientierten Umgang mit Literatur in der Oberstufe, in: Der FU 1997 (6), 38ff.

Chirollo, Natalie / Schröder, Achim (2017): Literarisches Verstehen durch "genaues Lesen": ein Drei-Phasen-Modell zur Planung von Literaturunterricht. Online

Frech, Eva/ Zoch, Helga (2011): Découvrir la littérature autrement. "L'hôte" de Camus en bande dessinée. Eine Unterrichtsreihe für die Oberstufe. Raabits: Stuttgart.

Mann, Otto (1969): Interpretationsansätze für die Behandlung von Camus' L'Hôte, in: Praxis des neusprachlichen Unterrichts 1969, 174ff.

Saïd, Edward W. (2012): Albert Camus, ou l’inconscient colonial. Online 

Schmidt, Stefan Georg (2011): L'hôte Handreichungen für den Unterricht, Cornelsen: Berlin.

Schröder, Achim (2018): Albert Camus' L'hôte (1952-1957) genau lesen: Anmerkungen zur schulischen Lektüre, Bd. 43, Nr. 169 in: Lendemains.

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Dieser Beitrag wird in Kooperation mit Dr. Achim Schröder angeboten.

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