Der erste Schultag

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Montag, 7:30 Uhr. Der erste Schultag nach den langen Sommerferien steht an. Es kribbelt. Es ist ein positives Kribbeln. Das ist gut. Das ist gesund. So muss das sein. Ich öffne die Eingangstür und erblicke die ersten, freudestrahlenden Kinderaugen. "Herr KLAFKIIIIIIII!!!!!". Und ehe man sich versieht, hat man zehn Kinder an den Beinen kleben. Keiner achtet beim Begrüßen, Umarmen, Knuddeln und Drücken auf meine neuen Schuhe. Das hätte ich vorher wissen sollen. Memo an mich: Am ersten Schultag keine neuen Sachen mehr anziehen. Das lohnt nicht. Die gehen kaputt. Egal. Alles, was zählt, ist die Mission. Weiter geht's.

Ich kämpfe mich bis in das Klassenzimmer durch. Etappenziel erreicht. "Freie Platzwahl auf Probe." Das kommt immer gut. Damit macht man sich Freunde. Alle sind aufgeregt und wollen erzählen, was sie in den Ferien alles erlebt haben. Ein Traum. Meine Klangschale ertönt. Alle wissen noch: "Wenn die Klangschale erklingt, heißt es: zur Ruhe kommen und nach vorne schauen." Das Langzeitgedächtnis funktioniert noch. Ausgezeichnet. "Wer möchte uns von seinen schönsten Ferienerlebnissen berichten?" Alle Hände oben. "Wolfi, du darfst beginnen." "Ich habe gaaaaaaaanz viel Pokémon go gespielt." Ich wusste es. Fabrice interveniert sofort: "Wolfi, das kann gefährlich werden! Ich habe von Menschen gehört, die sind beim Pokémon-Suchen von einer Klippe gesprungen und sind tot." Stille. Da weiß man gleich, welche Strategien manche Eltern fahren, um ihre Kinder davon abzuhalten. "Wolfi, dir geht's aber gut, oder?" Er schaut mich erstaunt an und entgegnet trocken: "Ja, ich laufe nicht viel und nicht gern. Das weißt du doch." Alle lachen. "Und was hast du sonst noch gemacht in den Ferien?" "Ähm, ich habe Nudeln gegessen." Aha.

Nachdem alle etwas von ihren Erlebnissen erzählt haben, eröffne ich den Kindern, dass wir in diesem Schuljahr das erste Mal einen Klassensprecher und einen Stellvertreter wählen. Alle jubeln. Ich erörtere zunächst, was die Aufgaben eines Klassensprechers sind. Dann frage ich, ob das jemand gerne machen mag. Zehn von 19 Kindern melden sich. Ich freue mich und schreibe alle betreffenden Kindernamen an die Tafel, nachdem ich abermals jeden Einzelnen gefragt habe, ob sie oder er sich das wirklich zutraut. Gut. In Ordnung. Wir wählen. Geheim. Ich teile weiße Blätter aus, welche gefaltet werden sollen. "In die Innenseite schreibt ihr jetzt verdeckt einen Namen, der an der Tafel steht. Diesem Kind gebt ihr so eure Stimme. Aber beachtet, dass ihr euch nicht selber wählen dürft. Habt ihr das verstanden?" "JAAAAAAAAAA!" Los geht's. Anschließend sammle ich die Blätter ein und führe eine Strichliste an der Tafel, jeweils beglaubigt von mehreren Schülerinnen und Schülern, um maximale Transparenz und Fairness zu gewährleisten. Als fast alle Stimmzettel ausgewertet sind, schluchzt Malte laut und beginnt zu weinen. "Malte, was ist mit dir?" "Ich stehe gar nicht an der Tafel!" "Ja, Malte, weil du dich vorhin nicht gemeldet hast und gar kein Klassensprecher werden wolltest." "Dooooooooch! Ich möchte Klassensprecher werden!" Aha. Now, we have the salad. Malte ist völlig konsterniert. Er war so aufgeregt, dass er das Melden vergessen hatte und auch meine konkreten Nachfragen genau falsch herum beantwortete. "Kommando zurück. Wir wählen neu." Alles noch mal von vorne. Soviel Zeit muss sein. Leider ist Malte kein Klassensprecher geworden. Sarah und Steve waren knapp vorne. "Herzlichen Glückwunsch an die beiden Klassensprecher!"

Nächster Programmpunkt: Mittagessen. Flo hat Hunger. Er flitzt los und rutscht auf der Treppe aus. Autsch. Macht aber nichts, wo gehobelt wird, da fallen Späne. Er schüttelt sich kurz und rennt weiter. Als Nachtisch gibt es Schokopudding. Lecker. Den mag jeder. Leider aber nicht den Eintopf aus Kartoffeln, Wasser und etwas Rotem, das entfernt nach Möhre aussieht. "Igitt." Anschließend geht es raus. Am ersten Schultag sind erstaunlicherweise nahezu alle Schülerinnen und Schüler draußen. Revier markieren. Duftmarken setzen. Seine Rolle im Rudel finden. Da steht man als Lehrkraft Gewehr bei Fuß und hofft das Beste. Nach dem Gong, der das Ende der Pause signalisiert, kann man durchatmen. Keine Verletzten.

In der letzten Stunde teile ich den Kindern ihre neuen Deutschbücher aus. "Achtet gut darauf, die müsst ihr am Ende des Schuljahres wieder bei mir abgeben." Pustekuchen. Nach drei Minuten weiß Manni nicht mehr, wo er sein Buch hingelegt hat. Chantalle kann ihren Namen nicht mehr schreiben und Malte stürzt beim Kippeln auf sein neues Buch. Eieiei. Das kriegen wir schon noch alles geregelt. Irgendwie. Und irgendwann.

Den Abschluss des Tages bildet ein Spiel: "Atmet tief ein und summt beim Ausatmen 'MMMMMMMMM', so lange es geht!" Das klappt. Lange. "Das ist zu einfach, Herr Klafki!" "Moment, jetzt atmet erneut tief ein, haltet dann mit euren Fingern eure Nase zu und summt erneut 'MMMMMMMMM'! Ihr werdet sehen, dass ihr das Summen keine drei Sekunden aushaltet." Alle laufen rot an. Keiner schafft das. Auch ich nicht. Geht nämlich nicht. Unmöglich. Ich entlasse danach alle Schülerinnen und Schüler in den Nachmittag und freue mich schon auf morgen. Da sind die Mathebücher dran. Das wird ein Spaß. Wenigstens kann ich morgen unbesorgt meine neuen Schuhe anziehen. Quod erat demonstrandum.

Alle Namen der Schülerinnen und Schüler wurden geändert.