Albert Camus' "L'Etranger": Einen Schulklassiker genau lesen, Teil III.2

Fachartikel

Die Gesamtdeutung von Camus' "L'Etranger" geht weiter mit einer Charakterisierung von Meursault. Dabei wird die Frage beantwortet, ob er als besonderes Individuum oder als ein für seine Zeit und für seine Umwelt typischer Sozialcharakter gelesen werden muss.

Die Frage nach der sozialen Bedeutung von Meursaults Charakterzügen ist deshalb von Bedeutung, weil die Beschränkung auf eine rein individuelle Charakterisierung die Sicht auf das verbaut, was für eine kritische Romaninterpretation zentral ist: die Bestimmung des Zusammenhangs von Literatur und Gesellschaft. 

Erarbeitung des Zusammenhangs von Werk und Geschichte

Eine in diesem Sinne kritische literatursoziologische Erarbeitung von Literatur im fremdsprachlichen Unterricht ist eine der zentralen Aufgaben des schulischen Literaturunterrichts. So fordert zum Beispiel der Hessische Lehrplan für das Fach Französisch: "Bei der Behandlung der literarischen Werke sind [...] die jeweiligen Zusammenhänge des Werkes mit der Geschichte, der Kultur, der Gesellschaft u. a. zu erarbeiten" (Hessisches Kultusministerium 2010, 59). Mit einer Analyse des Charakters einer literarischen Figur als Sozialcharakter kann dieser Forderung entsprochen werden. 

Die Aufgabe des Literatursoziologen nach Leo Löwenthal

Eine solchermaßen betriebene Charakteranalyse folgte der literaturwissenschaftlichen Tradition der Frankfurter Schule, wie sie Leo Löwenthal als Teil einer kritischen Gesellschaftstheorie bestimmt hat: "Die Aufgabe des Literatursoziologen", so Löwenthal, "besteht darin, die imaginären Gestalten der Dichtung mit der spezifischen historischen Situation, der sie entstammen, in Beziehung zu setzen und auf diese Weise die literarische Hermeneutik zu einem Teil der Wissenssoziologie zu machen" (Löwenthal 1990c, 332). Eine solche Wissenssoziologie hat nach Löwenthal das Ziel, Bewusstseinsinhalte zu bestimmen, die die Funktion haben, "die gesellschaftlichen Gegensätze zu vertuschen und an Stelle der Erkenntnis der sozialen Antagonismen den Schein der Harmonie zu setzen. Die Aufgabe der Literaturgeschichte ist zu einem großen Teil Ideologienforschung" (Löwenthal 1990c, 320). Die Literatursoziologe trägt als Teil der Wissenssoziologie der Frankfurter Schule mit dazu bei, die Folgen der "für die moderne Existenz charakteristischen und permanenten Unsicherheit" (Löwenthal 1990b, 32) zu analysieren. Löwenthal nennt als Unsicherheit auslösendes Krisenphänomen die "Ablösung einer Schicht kleiner unabhängiger Produzenten durch gigantische Konzernbürokratien, [den] Zerfall der patriarchalen Familienstruktur, de[n] Auflösungsprozess persönlicher Bindungen in einer zunehmend mechanisierten Welt, d[ie] Spezialisierung und Automatisierung des gesellschaftlichen Lebens und d[ie] Ablösung traditioneller Muster durch Massenkultur" (ebd., 30). Ziel der Literatursoziologe als Ideologienforschung ist für Löwenthal, die Entstehung von faschistischen, rassistischen, autoritären Bewegungen besser verstehen, entlarven und damit verhindern zu können: "Die unter der Malaise Leidenden sehen die Ursache sozialen Übels nicht in einer ungerechten oder überholten Gesellschaftsform oder der schlechten Organisation der gegenwärtigen Gesellschaft, sondern vielmehr in den Machenschaften von einzelnen oder Gruppen, die von angeborenen bösen Impulsen motiviert sind" (ebd., 31).

Die zentrale Frage der Textanalyse nach Löwenthal 

Textanalyse durch Literatursoziologie soll den Rezipienten die Augen dafür öffnen, dass die vom Schriftsteller geschaffenen Charaktere an ungerechten oder überholten Gesellschaftsformen leiden. Damit leistet sie Präventionsarbeit gegen den "Missbrauch des Unbehagens" durch Agitatoren, denn der Missbrauch "ist nur möglich, solange die Menschen sich nicht über seine Wurzeln in der modernen Gesellschaft klar werden" (ebd., 34).

Löwenthals Leitfragen einer literatursoziologischen Textanalyse

Mit Leo Löwenthal sind im Französischunterricht an ein literarisches Werk fünf Fragen zu richten:

  1. Qu'est-ce qui fait souffrir l'individu ou le caractère dans l'oeuvre littéraire?
  2. Quel phénomène de société est la vraie cause de cette souffrance? Quel phénomène crée un sentiment d'insécurité et ainsi une crise dont souffre l'individu dans l'oeuvre littéraire?
  3. Est-ce que l'individu qui souffre dans le texte littéraire comprend l'origine de sa souffrance ou est-ce qu'il rend responsable un autre groupe social ou autre chose?
  4. Quelle est donc la fonction de l'oeuvre littéraire pour la société? Est-ce qu'elle est conforme à la structure ou l'appareil de domination ou est-ce qu'elle la critique?
  5. Est-ce qu'on peut observer dans l'oeuvre littéraire une idéologie qui a la fonction de cacher les vrais conflits de société entre les dominés et les dominants?

Bezogen auf Camus' "L'Étranger" wäre das Ziel einer solchen wissenssoziologischen Betrachtung herauszufinden, ob und wenn ja in welcher Weise eine ideologische Haltung bei Meursault zu beobachten ist, die als Verarbeitung einer gesellschaftlichen Krise gedeutet werden kann. Zu fragen ist, in welcher Weise die von Meursault ausgedrückte Weltsicht ideologisch in dem Sinne ist, dass sie "die gesellschaftlichen Gegensätze zu vertuschen und an Stelle der Erkenntnis der sozialen Antagonismen den Schein der Harmonie zu setzen" (Löwenthal, a.a.O.) versucht.

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