Die Macht der Poesie

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veröffentlicht am 01.06.2017

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik untersuchen die körperliche Reaktionen auf Gedichte: der Grad des Bewegtseins in Redesituationen und bei Schlusspositionen ist besonders hoch.

Als „gemischte Empfindung des Leidens und der Lust an dem Leiden“ beschrieb Friedrich Schiller vor 225 Jahren einen scheinbar widersprüchlichen Gefühlszustand bei der Rezeption bewegender Kunstwerke. Forscherinnen und Forscher des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik in Frankfurt fanden nun physiologische Evidenz für diese Definition.

In einer groß angelegten Studie untersuchten sie die körperliche, neuronale und verhaltensrelevante Reaktionen auf bewegende Gedichte. Als Indikator für den Grad des Bewegtseins diente die Entstehung von Gänsehaut, die mittels einer eigens dafür gebauten Kamera („Goosecam“) erfasst wurde. Die Forscherinnen und Forscher fanden heraus, dass Gänsehautmomente von Gesichtsausdrücken begleitet werden, die auf negative Emotionen schließen lassen. In denselben Momenten war jedoch auch das Belohnungssystem im Gehirn aktiv.

Verteilung von Gänsehautmomenten

„Die Ergebnisse unserer Studie sollen auch dazu beitragen, eine Diskussion darüber anzuregen, wie Gedichte im schulischen und erzieherischen Kontext verwendet werden können, welche Rolle poetische Sprache in unserem Alltag spielt, und welches unerkannte Potenzial sie noch birgt“, so Studienleiter Eugen Wassiliwizky. Denn die Verteilung der Gänsehautmomente verrät etwas über die Mechanismen der poetischen Sprache: So fanden die Forscherinnen und Forscher zum einen heraus, dass Gänsehaut bevorzugt in Redesituationen (zum Beispiel in wörtlicher Rede) ausgelöst wurde. Zum anderen häuften sich die Gänsehautmomente am Ende einzelner Verse, Strophen und vor allem des ganzen Gedichts.

Die Begründung hierfür findet sich in den Prinzipien der poetischen Sprache: Reim und poetische Metren erwecken starke Erwartungshaltungen beim Zuhörer. Das Vorhersagesystem im Gehirn prüft kontinuierlich, inwiefern ein Gedicht die Erwartungen, die es selbst aufbaut, erfüllt oder verletzt. Besonders stark sind diese Erwartungen an Schlusspositionen, da diese das Auftreten einer Pause oder gar des Gedichtendes antizipieren. Oft werden sie durch das Reimschema noch zusätzlich verstärkt. Auch die inhaltliche Choreographie von Gedichten trägt zu Erwartungen an eine Zuspitzung oder finale Lösung bei. Offenbar wissen Dichterinnen und Dichter also sehr genau, wie sie uns – insbesondere am Ende von Spannungsbögen – einen Schauer über den Rücken laufen lassen können.

Originalpublikation (open access):

Wassiliwizky, E., Koelsch, S., Wagner, V., Jacobsen, T., & Menninghaus, W. (2017). The emotional power of poetry: neural circuitry, psychophysiology, compositional principles. Social cognitive and affective neuroscience. doi 10.1093/scan/nsx069